Die Tour de France hat zum ersten Mal seit 30 Jahren ihren Anfang in Deutschland gemacht. Düsseldorf hat das 13,4 Kilometer lange Einzelzeitfahren ausgerichtet, bei dem sich ein Deutscher im Vorfeld große Siegchancen ausgerechnet hatte.
Seinen Mund hat er weit aufgerissen. Im Oberkörper regt sich nichts. Kein zappeliges Wackeln zur rechten und linken Seite. Jeden Muskel hält er unter Kontrolle. Fast wie ein Eisblock sitzt er da auf seinem Zeitfahrrad. Mit einem monotonen, kraftvollen Beinschlag bewegt er sich vorwärts, seine Trittfrequenz ist hoch. Tony Martin hat Großes vor. Er will heute ins Gelbe Trikot fahren. Der Sieg muss also her, beim Prolog, beim ersten deutschen Grand Depart seit 1987 im geteilten West-Berlin. Nach acht Kilometern liegt er mit einer Sekunde Vorsprung auf Geraint Thomas, der schon im Ziel ist, auf dem Spitzenplatz.
Der 32-jährige Deutsche scheint seine Formkrise weitestgehend in den Griff bekommen zu haben. Bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro hat er sich selbst enttäuscht mit Platz 12 im Zeitfahren, obwohl er den hügeligen Streckenverlauf schon vornherein als unpassend für seinen Fahrstil empfunden hatte. Martin hat Umstellungen vornehmen müssen, beispielsweise hat er an seiner Sitzposition auf dem Rad gebastelt. Die Schmach von Rio hat er schnell aus dem Gedächtnis streichen wollen. Zuletzt hat es ihn zu einem neuen Radstall, zu Katusha-Alpecin gezogen. Bei den Weltmeisterschaften in Katar rund zwei Monate später haben seine Maßnahmen bereits gefruchtet. Dort hat er sich zum insgesamt vierten Mal den Weltmeistertitel geholt.
Doping geht zurück, aber nicht gegen Null
Tony Martin ist ein Spezialist im individuellen Kampf gegen die Uhr, genau wie Andre Greipel und Marcel Kittel im Sprint oder John Degenkolb als Allrounder. Die deutschen Spitzenradprofis haben in den letzten Jahren viel erreicht. Allein Greipel und Kittel haben seit 2011 zusammengenommen 20 Etappenerfolge bei der Tour de France eingefahren. Da kommen zwangsläufig Fragen auf, die sich um Doping drehen. Doch die neue deutsche Generation ist nicht müßig zu betonen, dass sie aus den Fehlern ihrer Vorgänger gelernt hat. Sie stehen für sauberen Sport.
Seit den zahlreichen Dopingfällen Mitte der 2000er Jahre, hat auch der internationale Radsportverband (UCI) an seinem System zur Bekämpfung von Betrug gearbeitet. Jeder Fahrer besitzt nun einen biologischen Pass, womit man Auffälligkeiten im Blutbild eines Athleten erkennen kann. Transparenter soll der Radsport daherkommen. Die Dopingkontrolleure machen auch nicht vor einem Tony Martin Halt, den sie am Tag des Einzelzeitfahrens in Düsseldorf um 6:30 Uhr aus dem Bett geklingelt und zur Kontrolle gebeten haben.
Cardoso wird kurz vor Tour-Start erwischt
Die Zahl positiver Dopingbefunde ist zwar zurückgegangen, vollkomen ausgemerzt ist sie aber nicht. Andre Cardoso vom Team Trek-Segafredo wurde wenige Tage vor Beginn der Tour mit der verbotenen Substanz Epo erwischt. Teamkollegen und andere Fahrer zeigten sich entsetzt. Nikias Arndt vom deutschen Team Sunweb wunderte sich: „Wie doof kann man sein, im Jahr 2017 noch Epo zu nehmen?“
Fritz Sörgel, Anti-Doping-Experte, sagt: „Die spektakulären Dopingfälle bei der Tour wie Landis, Schleck oder Ullrich waren doch ziemliche Dummheiten. Diese Zeiten sind ganz offensichtlich vorbei. Wer aber glaubt, es wird nicht tagtäglich an neuen Methoden des Dopens geforscht, der täuscht sich.“ Ein Schatten liegt auch auf der neuen Mannschaft von Martin. Teamchef Jose Azevedo ist einst mit Lance Armstrong um Tour-Gesamtsiege gefahren, war einer der wichtigsten Helfer. Tony Martin hat demnach den Wechsel von Etixx Quick-Step zu einem nicht ganz unumstrittenen Team vollzogen.
Mit deren Hilfe will er der erste Deutsche sein, der im Heimatland das Gelbe Trikot erobert. Das einzige Problem an diesem Samstagnachmittag ist allerdings der Regen, doch der macht allen Fahrern zu schaffen. Der Spanier Alejandro Valverde ist schwer gestürzt und wird ins Krankenhaus eingeliefert. Tour-Mitfavorit Nairo Quintana muss fortan auf seinen wichtigsten Helfer in den Bergen verzichten. Für Valverde ist die Tour mit einer gebrochenen Kniescheibe schon nach wenigen Kilometern beendet.
Martin übersteht die kurvigen Passagen zu Beginn unfallfrei, liegt auf Erfolgskurs, seine Spezialität folgt erst noch. Denn das kilometerlange Geradeausfahren auf der Königsallee und am Rhein entlang liegt ihm ja so. Doch gerade da büßt er Sekunde um Sekunde ein. Der Traum, den er hatte und die große Chance, die er sah, als deutscher Fahrer Geschichte zu schreiben, löst sich allmählich in Luft auf.
Im Ziel angekommen, beträgt sein Rückstand acht Sekunden. Nicht viel, aber auf dieser so kurzen Strecke ausschlaggebend. Geraint Thomas vom Team Sky triumphiert, Zweiter wird Stefan Küng, Dritter Vasil Kiryenka. Die Enttäuschung ist Martin auch nach dem Rennen anzusehen. Er spricht im Nachgang von einer verpassten Chance und unendlicher Enttäuschung.
Die Möglichkeit ins „Maillot Jaune“ zu fahren, ist zwar für ihn vorerst vorbei. Dass er einen Erfolg auch als Ausreißer bei einer Flachettape landen kann, hat er aber vor zwei Jahren bewiesen Für einen Tag hat er damals die Führung im Gesamtklassement übernommen. Ein Sturz bei der sechsten Etappe hat ihn dann jedoch aus dem Rennen genommen, weswegen sein Auftritt in Gelb zwar einmalig und unvergessen, aber recht kurz war.
Den vorletzten Tag hat sich Martin bestimmt fett im Kalender angestrichen, dort steht ein Einzelzeitfahren in Marseille an. Vom Stadion von Olympique Marseille aus geht es auf die 22,5 Kilometer lange Strecke durch die Stadt. Er zählt wieder zu den Favoriten. Das Gelbe Trikot wird für ihn in Marseille nach den Alpen und Pyrenäen unerreichbar sein, das machen Quintana, Froome oder Porte unter sich aus, ein Tagessieg ist aber immer eine feine Sache.