Fußball

Fußball: Marcelo Bielsa – der eigenwillige Trainer, der Pochettino entdeckt hat und von Pep bewundert wird

Mathieu from Marseille, France (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Marcelo_Bielsa_lors_de_Olympique_de_Marseille_VS_Evian_Thonon_Gaillard_(16232757927).jpg), „Marcelo Bielsa lors de Olympique de Marseille VS Evian Thonon Gaillard (16232757927)“, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/legalcode

Pep Guardiola bezeichnet Marcelo Bielsa als besten Fußballtrainer der Welt. Marcelo wer? Hierzulande ist der 68-jährige Argentinier nicht sehr bekannt. Er hat noch nie einen absoluten Spitzenklub trainiert, was mit seinem Charakter zusammenhängen dürfte. Seine Titelsammlung ist nicht so üppig – sein Wissen über Fußball ist es allemal. Wer ist Marcelo Bielsa, wo kommt er her und was macht ihn so speziell?

Marcelo Bielsa wurde einst gefragt, was er in seiner freien Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr vorhabe. Seine Antwort: Er wolle jeden Tag zwei Stunden Sport treiben und 14 Stunden Videos schauen – Fußball versteht sich.

Der argentinische Fußballtrainer ist ein Perfektionist. Sein Spitzname „El Loco“, der Verrückte, könnte nicht treffender sein. Es gibt kaum Profitrainer, über die man so viele Anekdoten erzählen könnte, wie über Bielsa. Über ihn zu schreiben ist trotzdem eine Herausforderung, weil man nicht weiß, wo man beginnen soll.

Marcelo Bielsa kommt wie Lionel Messi aus Rosario

Im Zweifel bietet das chronologische Erzählen einen Ausweg: Bielsa wird am 21. Juli 1955 geboren und wächst in Rosario auf, der mit rund einer Million Einwohner drittgrößten Stadt Argentiniens, 300 Kilometer nordwestlich von Buenos Aires. Che Guevara kam hier zur Welt, der Schlagersänger Semino Rossi, eine Reihe berühmter Fußballer wie Lionel Messi, Ángel Di María oder Javier Mascherano und der früher weltbekannte Trainer César Luis Menotti.

Bereits mit 15 Jahren verlässt Bielsa sein Elternhaus und zieht in eine Vereinsunterkunft bei Newell’s Old Boys in Rosario. Der Sohn eines Rechtsanwalts und einer Universitätsdozentin ist in den Fußball vernarrt – aber nicht um jeden Preis, zumindest in seiner jugendlichen Unüberlegtheit: Nach zwei Tagen muss er die Vereinsunterkunft wieder verlassen, weil er sich weigert, sein Zweitaktmoped außerhalb des Vereinsgeländes zu parken.

Bielsa beendet früh seine Spielerkarriere und wird Trainer

Der Rauswurf kann seiner Leidenschaft für Fußball nichts anhaben. Nach einiger Zeit nehmen die Old Boys ihn wieder auf. Bielsa ist technisch beschlagen, aber nicht schnell und athletisch genug. Mit 24 Jahren wird ihm klar, dass er keine lange, erfolgreiche Profikarriere haben wird, und hört auf. Seine letzte Station als Spieler: Argentina Rosario in der dritten Liga.

Er bleibt fasziniert von Strategie und Taktik und beginnt, das Universitätsteam der Hochschule in Buenos Aires zu trainieren. Alle Spieler sind Amateure, dennoch fordert Bielsa ihnen alles ab. Er ist eher distanziert zu ihnen und siezt sie. „Kein Kumpel, aber auch kein unnahbarer Diktator“, heißt es über Bielsa in der österreichischen Zeitung Standard.

Bielsa entdeckt Mauricio Pochettino

Ende der 1980er Jahre kehrt er zu den Newell’s Old Boys zurück, wird Trainer im Jugendbereich und später in der zweiten Mannschaft. Nachwuchsförderung hat für ihn oberste Priorität. Er fahndet eifrig nach Talenten und nimmt dafür einige Strapazen in Kauf. Er teilt Argentinien (2.780.000 km²), das fast achtmal so groß wie Deutschland ist, in 70 Abschnitte und veranstaltet Probetrainings selbst in abgelegenen Gegenden. Da er Flugangst hat, fährt er mit einem Fiat 147 durchs ganze Land.

Auf seiner Reise hört er von Mauricio Pochettino, der damals zarte 13 Jahre alt ist. Um 2 Uhr nachts soll Bielsa bei Pochettinos Eltern geklingelt und darum gebeten haben, die Beine des Jugendlichen anzusehen. Nachdem die Mutter Bielsa ins Kinderzimmer geführt hat, sagt dieser: „Euer Sohn hat Beine wie ein Fußballer.“ Ungefähr eineinhalb Jahrzehnte später debütiert Pochettino in Argentiniens Nationalmannschaft, sein Trainer: Marcelo Bielsa.

Sowohl Bielsa als auch Pochettino sind heute über die Landesgrenzen hinaus bekannt, vor allem aufgrund ihrer Trainerkarrieren. Doch zunächst musste sich Bielsa in Rosario einen Namen machen.

„Bielsa hatte nicht die Fähigkeit, ein großer Spieler zu werden, aber er wusste, was einen großen Spieler ausmachte“, sagte Jorge Griffa, der in der Jugendabteilung der Newell’s Old Boys arbeitete und als Mentor Bielsas gilt.

Bielsa wird zweimal Meister mit Newell’s Old Boys

1990 wird Bielsa zum Chef der ersten Mannschaft befördert. Es dauert nicht lange, bis der Erstligist den ersten Erfolg unter dem Trainer-Novizen feiert. Innerhalb von nur drei Spielzeiten gewinnen die Old Boys zwei Meisterschaften. Allerdings bleibt dem Team ein internationaler Titel verwehrt: Im Copa-Libertadores-Finale 1992 (quasi die südamerikanische Champions League) ist São Paulo stärker. Bei den Old Boys hinterlässt er nachhaltig Eindruck. Obwohl Bielsa nur zwei Jahre Trainer der ersten Mannschaft ist, wird die Spielstätte 2009 in Estadio Marcelo Bielsa umbenannt.

Nicht nur die beiden Titel tragen zum Vermächtnis Bielsas bei, sondern auch die Überlieferungen abseits des Platzes – obwohl er sich mit den eigenen Fans angelegt hat: Nach einer 0:6-Abreibung gegen San Lorenzo belagern Old-Boys-Fans Bielsas Haus. Anstatt die Emotionen zu beruhigen, öffnet dieser ausgerüstet mit einer Handgranate die Tür und droht ihnen, schnellstens zu verschwinden, oder er würde sie in die Luft jagen. Die zunächst aufgebrachten Anhänger treten eingeschüchtert den Rückweg an.

Zu Verteidiger Fernando Gamboa sagt Bielsa, er würde sich einen Finger amputieren, wenn seine Mannschaft dadurch gewinnen würde. Von Gamboa stammt auch ein berühmtes Zitat, das Bielsas Hingabe unterstreicht: „Kennst du das Problem, Professor? Du lebst 24 Stunden am Tag für den Fußball, aber der Rest von uns hat ein Leben außerhalb des Spiels.“

Bielsas erste Auslandsstationen

Bielsa zieht es nach Mexiko, wo er titellos bleibt – zuerst zu Atlas Guadalajara, dann zu CF América. Anschließend geht es zurück in die Heimat zu Vélez Sarsfield. Zu seinem Vorstellungsgespräch bringt er 51 Videokassetten mit, um der Chefetage seinen Spielstil näherzubringen.

Prompt wird er erneut argentinischer Meister (1997/1998), geht aber nach nur einer Saison – und beginnt seine erste Tätigkeit in Europa bei Espanyol Barcelona. Auch dort ist seine Zeit schnell wieder vorbei, da ihn ein Angebot erreicht, das er nicht ausschlagen will: den Posten des Nationaltrainers von Argentinien.

WM-Misserfolg und Olympiasieg mit Argentinien

Jetzt steht er noch mehr in der Öffentlichkeit, wie ein paar Jahre später sein Bruder Rafael (argentinischer Außenminister zwischen 2005 und 2007) und seine Schwester María (von 2019 bis 2020 Ministerin für ländliche Entwicklung und Wohnraum).

Dennoch scheut er sich nicht vor außergewöhnlichen Änderungen und schafft Exklusivinterviews ab, weil er Journalisten großer Tageszeitungen und TV-Sender genauso wie Lokalreporter behandeln will. Ab sofort und bis zum heutigen Tag interagiert er mit den Medien nur auf Pressekonferenzen, wo er ausgiebig auf alle Fragen eingeht.

In der Qualifikation für die WM 2002 in Japan und Südkorea holt die Albiceleste 43 von 54 möglichen Punkten und wird mit weitem Abstand Erster. In 18 Spielen verliert die Mannschaft nur einmal, auf 2.850 Metern Höhe in Quito (Ecuador). Argentinien zählt zu den WM-Titelfavoriten und hätte ein nationales Erweckungserlebnis bitter nötig, da das Land in einer heftigen Wirtschaftskrise steckt.

Diese macht sich auch im Fußball bemerkbar. Schon vor Turnierbeginn hatte der Verband mitgeteilt, dass die Spieler keine WM-Prämie kassieren. Außerdem hatte Bielsa 42 Tage vor dem Eröffnungsspiel mit seinem Rücktritt geliebäugelt, da der Verband ihn in Pesos auszahlen wollte und nicht wie ausgemacht in Dollar, der deutlich mehr Wert besitzt. Schließlich können sich beide Parteien dennoch einigen.

Doch trotz Spielern wie Gabriel Batistuta, Hernán Crespo, Diego Simeone und Javier Zanetti übersteht Argentinien die WM-Gruppenphase nicht. „Ich habe hervorragendes Spielermaterial, es aber nicht geschafft, daraus Kapital zu schlagen“, sagt Bielsa nach dem WM-Aus. In einer internen Besprechung entschuldigt er sich bei seinen Spielern und wird von ihnen umarmt.

Zwei Jahre später folgen die Höhepunkte seiner Amtszeit, die im Vergleich zu seinen anderen Stationen außergewöhnlich lange anhält. Bei der Copa América verliert Argentinien das Finale gegen Brasilien erst im Elfmeterschießen. Bei den olympischen Spielen in Athen holt das Team mit dem damals 20-jährigen Carlos Tévez die Goldmedaille. Kurz nach den beiden Großereignissen tritt Bielsa zurück.

Bielsa nimmt sich eine Auszeit

Er unterbricht seine Trainertätigkeit und widmet sich anderen Dingen, geht etwa drei Monate ins Kloster und lässt dabei sein Telefon zuhause. Drei Jahre lang schlägt Bielsa Angebote von Profiklubs aus. Langweilig wird ihm nicht, schließlich hat er 40 Sportmagazine abonniert.

Er reflektiert, welche Art von Fußball er in der Vergangenheit hat spielen lassen und welche er nach seiner Auszeit spielen lassen will. Des Weiteren ist er daran interessiert, seinen Erfahrungsschatz an die nächste Generation weiterzugeben.

Der angehende Trainer Pep Guardiola besucht Bielsa

Bevor Pep Guardiola seine Trainerkarriere aufnimmt, besucht er Bielsa auf dessen Ranch in Maximo Paz 50 Kilometer südwestlich von Buenos Aires, um mit ihm über Taktik und Trainingsformen zu sprechen. Es vergehen elf Stunden, ehe Guardiola das Anwesen wieder verlässt. Eine prägende Begegnung für den angehenden Coach: „Er versteht vom Fußball viel mehr als ich“, sagt Guardiola viele Jahre später. „Meine Mannschaften haben zwar mehr Titel gewonnen als seine, aber in Sachen Fachwissen bin ich ihm klar unterlegen.“ Außerdem räumt Guardiola ein: „Er beeinflusst Spieler und das gesamte Spiel. Darum ist er der beste Trainer der Welt. Wer Trainer werden will, muss vorher mit ihm gesprochen haben.“

Im 11Freunde-Magazin steht ein passender Vergleich: „In der Literatur gibt es Schriftsteller, die das Publikum kaum kennt, die aber von anderen Schriftstellern verehrt werden. Es gibt Filmemacher, die nie einen Kassenerfolg hatten, aber Inspiration für viele Regisseure sind. Marcelo Bielsa ist in diesem Sinne ein Trainer für die Trainer.“ Bielsa, der typische „Arthouse-Trainer“.

Bielsas Bewunderer

Nicht nur Guardiola zieht Bielsa in den Bann. Profitrainer Jorge Sampaoli hört sich stundenlang die Tonaufzeichnungen von Bielsas Pressekonferenzen an. Mauricio Pochettino sagt einmal: „Für mich ist er überhaupt nicht verrückt. Er ist ein Genie. Eine Person mit Charisma und Charakter, ganz anders als wir normale Trainer, das macht ihn so besonders.“

Diego Simeone, der seit Dezember 2011 Trainer von Atlético Madrid ist, schwärmt von seinem Lehrmeister, für den er in der argentinischen Nationalmannschaft spielte: „Ich habe den Einfluss von mehreren Trainern: Bielsa, Eriksson, Basile – sie alle haben ihre Spuren hinterlassen. Von Bielsa habe ich am meisten gelernt.“ Auch wenn Simeone, der Defensivstratege, und Guardiola, der Offensivfußballfanatiker, für gegensätzlichen Fußball stehen, ist es interessant, dass beide Bielsa bewundern.

Bielsa orientiert sich an Menotti, Bilardo und Rinus Michels

Das mag damit zusammenhängen, dass Bielsa danach strebt, Ästhetik und Pragmatik zu vereinen. Besonders zwei Trainer aus Argentinien haben ihn geprägt: César Luis Menotti, der die Albiceleste 1978 zum Weltmeistertitel führt, und Carlos Bilardo, der das Kunststück 1986 schafft.

Bei seinem Amtsantritt als Nationaltrainer Argentiniens sagt Bielsa: „16 Jahre meines Lebens habe ich auf sie gehört: acht auf Menotti, dessen oberste Priorität Kreativität war, und acht auf Bilardo, der vor allem ergebnisorientiert spielen ließ. Ich habe versucht, das Beste aus beiden Welten mitzunehmen.“

Von Bilardo schaut er sich die Bedeutung von Disziplin, akribischer Vorbereitung und der Wiederholung von Trainingsinhalten ab, doch vom Spielstil her orientiert er sich mehr an Menotti. „Ich bin besessen von der Offensive. Wenn ich mir Videos angucke, dann wegen des Angriffs, nicht wegen der Verteidigung“, macht Bielsa deutlich.

Kaum ein Zitat untermalt seine Geisteshaltung mehr als dieses: „Wer schönen Fußball für das Ergebnis opfert, den sollte man meiner Meinung foltern. Die Ärmsten unter uns haben Fußball zur Entspannung. Ich würde es schrecklich finden, wenn wir ihnen nur Ergebnisse böten.“

Inspirieren lässt sich Bielsa auch von Rinus Michels und dem sogenannten „Totaalvoetbal“-Ansatz. In den 1970er Jahren war die Devise bei Ajax Amsterdam und der niederländischen Nationalmannschaft folgende: Das Spielfeld so klein wie möglich machen, wenn man nicht den Ball hat, und so groß wie möglich, wenn man den Ball hat.

Durch häufige Positionswechsel sollten die Spieler sich einen Vorteil verschaffen. Wenn ein Akteur eine Position verließ, musste umgehend ein Mitspieler diese besetzen. Die Sportler mussten nicht nur laufstark sein, sondern auch ein Verständnis für Räume haben.

Bielsa lässt einen ähnlich anspruchsvollen Fußball spielen: direkt und zielgerichtet nach vorne, bei einem Ballverlust soll der Ball so schnell wie möglich zurückerobert werden – im Optimalfall möglichst tief in der gegnerischen Hälfte.

Ausdauer als Grundvoraussetzung

Für die perfekte Umsetzung seines Spielstils benötigt er dynamische und willige Spieler mit großer Ausdauer. Im Training lässt er einmal wöchentlich„Mörderball“ spielen. Elf gegen Elf, 45 Minuten lang ohne Pause, Freistöße oder Standards. Sobald der Ball im Aus landet, wirft einer seiner Assistenten einen neuen Ball ins Feld.

Anders als viele seiner Trainerkollegen bevorzugt er statt Raumdeckung eine konsequente Manndeckung, die man in diesem Ausmaß kaum noch im modernen Fußball findet. Gegenspieler werden weniger im Raum übergeben, sondern vielmehr über den halben Platz verfolgt. Doch dieser Fußball ist so intensiv, dass seinen Spielern am Ende der Saison oft die Kräfte ausgehen und ein guter Saisonstart seiner Mannschaften oft nur die halbe Wahrheit ist.

Bielsa bevorzugt ein 4-3-3 oder ein ungewöhnliches 3-3-3-1 mit offensiven Außenverteidigern, die viele Ballkontakte haben sollen. Wenn der Gegner mit zwei Angreifern spielt, setzt er häufig auf drei Innenverteidiger. Wenn der Kontrahent mit zwei Spitzen aufläuft, formiert er seine Hintermannschaft um zwei Innenverteidiger.

Seine Philosophie kann auf vier Begriffe vereinfacht werden: “concentración permanente“ (permanente Konzentration), „movilidad“ (Beweglichkeit), „rotación“ (Rotation) und repenitización“ (Improvisation).

Gerade im Angriffspiel ist ihm Improvisation wichtig. Er gibt Spielern eine Chance, die das Spiel lesen und deuten können. Sie sollen auf dem Feld eigenverantwortlich Entscheidungen treffen und weniger stur einem Plan folgen. Seine Spieler sollen über Fußball nachdenken – so wie er. Bielsa ist der Auffassung, es gebe acht Wege, um Flanken zu schlagen, elf Wege aufs Tor zu schießen, 17 Wege zu verteidigen und 36 Wege zu passen. Wie das Ganze auf dem Feld aussieht, bleibt hingegen sein Geheimnis.

Bielsa bringt Chile auf eine neue Stufe

2007 fühlt er sich wieder bereit, eine Auswahl junger Männer zu übernehmen: die chilenische Nationalmannschaft. Er führt das Team ins WM-Achtelfinale 2010, aber vor allem errichtet er den Grundstein für spätere Erfolge.

Als die „goldene Generation“ um Arturo Vidal und Alexis Sánchez in ihre spielerische Blütezeit kommen, gewinnt Chile 2015 und 2016 die Copa América. In beiden Endspielen zieht Argentinien jeweils im Elfmeterschießen den Kürzeren. Als Chile Bielsas Heimatland in die fußballerische Sinnkrise stürzt, ist Bielsa längst in Europa.

Denn 2011 tritt Bielsa zurück, nachdem im Verbandspräsidium personell durchgetauscht wird. Kurz darauf schlägt er ein Angebot von Inter Mailand aus, einem Klub, der im Jahr zuvor die Champions League gewonnen hat.

Zwei Unikate finden sich: Bielsa und Bilbao

Er heuert bei Athletic Club an, einem sonderbaren Erstligisten aus Bilbao, bei dem nur Spieler aus dem Baskenland eingesetzt werden. Zwei Unikate hatten sich gefunden: Bielsa und Bilbao. Womöglich zieht er das spanische Team aus dem Tabellenmittelfeld den Nerazzurri vor, weil er bei Athletic Club freie Hand erhält und bei den Mailändern nicht.

Javi Martínez, der über den Athletic Club beim FC Bayern München landete, hat nur Positives über seinen Ausbilder zu berichten: „Er ist ein Trainer, der dich körperlich ans Limit bringt. Er weiß einfach, wie er alles aus dir herauspressen kann, dich auf dein absolutes Topniveau bringt“, sagt er gegenüber 11Freunde. Martínez habe nicht nur sportlich viel gelernt, sondern sei damals auch menschlich gewachsen. „Manchmal dauerten Ansprachen eine Stunde lang, ohne dass er ein einziges Wort über Fußball verloren hätte. Er hat einfach nur über das Leben geredet.“

Sein Mitspieler Iker Munian wird gefragt, ob Bielsa wirklich so verrückt sei, wie er dargestellt werde. „Nein“, sagt Muniain. „Er ist noch verrückter.“ Bielsa selbst denkt da anders: „Ein Mann mit neuen Ideen ist verrückt, bis er Erfolg hat.“ Den hat er auch mit Bilbao, wenngleich ihm ein Titel verwehrt bleibt. 2012 verliert sein Team sowohl das Europa-League-Finale gegen Atlético Madrid (0:3) als auch das Pokalfinale gegen den FC Barcelona (0:3).

Die Kehrseite des Bielsa-Fußballs

Es zeigt sich ein wiederkehrendes Muster: Bielsas Fußball verzückt die Zuschauer, gegen Saisonende allerdings sind seine Spieler häufig mental und physisch ausgebrannt. Auch seine zweite und letzte Saison in Bilbao ist nicht so erfolgreich wie die erste. Seine Mannschaften zollen dem intensiven Training Tribut. Man kann Bielsa vorwerfen, dass er es oft nicht schafft, seine Spieler in der entscheidenden Saisonphase zwischen März und Mai zu Höchstleistungen zu verhelfen.

Zusätzlich zur körperlichen Belastung ist es nicht unwahrscheinlich, dass er seine Spieler durch zu viele Informationen überfordert. Nach einem Spiel gegen Barcelona schickt er Guardiola seine vorbereitenden Notizen. Dieser räumt ein: „Du weißt mehr über Barcelona als ich“. Trotzdem hat Athletic Club das Spiel verloren.

„Wenn die Spieler keine Menschen wären, würde ich niemals verlieren“, sagt Bielsa einmal. Eine Mischung aus Hochmut, Selbstbewusstsein, Verbissenheit und Akribie spricht aus ihm – wobei auch ein Stückchen Wahrheit dabei ist. Zu oft gelingt es ihm, mittelmäßige oder stagnierende Klubs aus der Versenkung zu holen – zumindest zeitweise.

Jonathan Wilson schreibt im Buch „Revolutionen auf dem Rasen“, dass Bielsa Spieler erbarmungslos drillte und sie immer wieder bestimmte Spielzüge einstudieren ließ, „fast so als wolle er den Einfluss des menschlichen Faktors minimieren.“

Bielsas bleibt eine Saison in Marseille, zwei Tage in Rom und fünf Monate in Lille

2014 zieht es ihn zu Olympique Marseille. Bielsa führt den Klub zu acht Siegen in Folge und zur Herbstmeisterschaft, doch in der Rückrunde gehen seinen Spielern erneut die Kräfte aus. In der Abschlusstabelle landet Marseille auf Platz vier, 14 Punkte hinter Paris Saint-Germain. Trotzdem wird Bielsa den Marseille-Fans im Gedächtnis bleiben: Binnen einer Saison verlassen vier Dolmetscher aus Überforderung den Klub. Darüber hinaus muss er sich die Kritik gefallen lassen, dass er kaum Englisch spricht – auch bei seinen anderen Klubs außerhalb Argentiniens und Spaniens.

Mathieu from Marseille, France (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Marcelo_Bielsa_lors_de_Olympique_de_Marseille_VS_Evian_Thonon_Gaillard_(16232757927).jpg), „Marcelo Bielsa lors de Olympique de Marseille VS Evian Thonon Gaillard (16232757927)“, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/legalcode

Seine nächste Station ist kaum der Rede wert: Nach zwei Tagen schmeißt er bei Lazio Rom hin, weil der Vorstand seine Wunschspieler nicht verpflichtet – trotz vorheriger Versprechungen. Bielsa ist konsequent, zugleich aber auch stur und kompromisslos. Vermutlich der Grund, warum er noch nie für einen Topklub gearbeitet hat, der regelmäßig in der Champions League Erfolg hat.

Im Sommer 2017 nimmt ihn der OSC Lille unter Vertrag. Bei kaum einer anderen Station hat Bielsa weniger Erfolg, sein Punkteschnitt in 14 Spielen: 1,07. Nach nicht einmal fünf Monaten ziehen die Nordfranzosen den Schlussstrich.

Bielsa überzeugt mit Leeds

Im darauffolgenden Frühsommer ist Leeds United auf der Suche nach einem neuen Trainer und der eigenwillige Fußballfachmann ist der Wunschkandidat. Eines Abends spricht der Sportdirektor von Leeds Bielsa auf die Mailbox, um ihn zum Vorstellungsgespräch zu laden. Am nächsten Morgen ruft er zurück, zu diesem Zeitpunkt hat er schon sieben Spiele von Leeds gesehen.

Es dauert nicht lange, bis der Vertrag unterschrieben ist. Berichten zufolge verdient Bielsa in der zweiten englischen Liga doppelt so viel wie seine Trainerkollegen: etwa sieben Millionen Euro im Jahr. Dennoch erscheint Bielsa im Trainingsanzug, als Leeds United 2019 ein Galadinner zum 100-jährigen Vereinsjubiläum ausrichtet. Zwischen lauter Anzugträgern ist der grauhaarige Argentinier auf dem Abschlussfoto leicht zu identifizieren. Sogar in einem Supermarkt wird er mit Trainingsanzug gesichtet.

Zu Beginn seiner Amtszeit geht er mit den Spielern drei Stunden lang den Müll vor dem Stadion wegräumen. Er will damit vermitteln, dass ein durchschnittlicher Fan so lange für ein Stadionticket arbeiten muss.

Bielsa ist integer, idealistisch, aber gleichzeitig sehr hartnäckig, besessen, anspruchsvoll und stellenweise dogmatisch. Kein Mensch, der jedem gefallen will. Aber den Fans ist er zuvorkommend gegenüber, was sich daran zeigt, dass er jeden Autogrammwunsch erfüllen möchte. Er ist nahbar und doch unnahbar. Er verstellt sich nie, fordert viel von seinen Spielern und noch mehr von sich selbst.

Fairplay-Preis und Spionage-Betrug in einer Saison

In seiner ersten Saison ereignet sich ein Vorfall, der landesübergreifende Schlagzeilen macht. Am 28. April 2019 trifft Leeds am vorletzten Spieltag auf Aston Villa. Während ein gegnerischer Spieler verletzt am Boden liegt, schießt Leeds ein Tor. Daraufhin ordnet Bielsa an, Aston Villa ein Tor schießen zu lassen, ohne dass seine Spieler Gegenwehr leisten sollen. So endet das Spiel 1:1. Für diese Aktion erhält der Trainer den FIFA-Fairplay-Preis.

Zumindest theoretisch hätte für Leeds sogar noch die Chance auf den direkten Aufstieg in die Premier League bestanden, doch auch mit einem Sieg hätte Leeds noch drei Punkte Rückstand und das deutlich schlechtere Torverhältnis als der Konkurrent Sheffield United gehabt. Obwohl die Mannschaft die Tabelle der zweiten englischen Liga zwischenzeitlich angeführt hat, wird es nichts mit dem Aufstieg, da sie in den letzten vier Spielen sieglos bleibt.

Ein weiteres Ereignis aus dieser Saison zeigt aber auch, dass sein Pflichtbewusstsein, seine Spieler bestmöglich auf den Gegner vorzubereiten wollen, manchmal seinen Idealismus aussticht: Vor einem Spiel schickt er einen Scout zum Trainingsgelände von Derby County, damit dieser den Gegner ausspioniert. Als der Betrug auffliegt, zahlt Bielsa die Strafe von 200.000 Pfund freiwillig selbst.

Durch die Pressekonferenz vor dem Spiel kann er jedoch wieder Sympathien zurückgewinnen: In etwas mehr als einer Stunde offenbart er seine Sichtweise auf die Taktik von Derby County und zerlegt die Stärken und Schwächen jedes Spielers.

Ein Journalist fragt, warum Bielsa Derby County ausspioniert habe, wenn er ohnehin schon alles über den Gegner wisse. Bielsas Antwort: Er würde sich schlecht fühlen, wenn er nicht jeden Stein umgedreht hätte. Mit der von ihm einberufenen Pressekonferenz will er zum Ausdruck bringen, dass die Spionage nur einen kleinen Teil seiner Vorbereitung ausgemacht habe.

Bielsa ist ein Workaholic, der nichts dem Zufall überlassen will. Ein Analytiker, dessen Gründlichkeit seinesgleichen sucht. Bei Leeds steht sogar eine Küche und ein Bett in seinem Büro, falls ihn die Videoanalyse zu lange beschäftigt.

Bielsa steigt mit Leeds in die Premier League auf

Im Jahr darauf scheint Bielsa besser vorbereitet zu sein auf die Zweitligasaison in England, die 46 Spiele umfasst (zwölf mehr als in Deutschland). Vielleicht hilft ihm aber auch die Corona-Zwangspause, in der seine Spieler neue Kraft tanken können. Leeds wird Meister mit zehn Punkten Vorsprung auf den Zweiten.

Nach 16 Jahren Abstinenz kehrt der Traditionsklub 2020 wieder in die Premier League zurück. In der vermutlich stärksten Liga der Welt hält Leeds bestens mit. Ein starker neunter Platz, 18 Siege, 15 Niederlagen, fünf Remis und eine Tordifferenz von 62:54 untermauern die eindrucksvolle Debütsaison. Mit 59 Punkten liegt das Team nur zwei Punkte hinter Arsenal, drei hinter Tottenham und sechs hinter West Ham, das sich für die Europa League qualifiziert.

Außerdem wird Kalvin Phillips unter Bielsa zum englischen Nationalspieler. Zuvor hat er Phillips vom offensiven ins defensive Mittelfeld gezogen, wo seine Qualitäten noch mehr zur Geltung kommen.

Bielsa passt seine Strategie nicht an – und wird entlassen

In der Spielzeit 2021/2022 misslingt der Saisonstart allerdings. Einerseits stellen sich die Gegner nun besser auf Leeds ein, andererseits fallen wichtige Spieler wie Phillips oder Patrick Bamford über weite Strecken der Saison aus.

Trotz der Verletzungsprobleme passt Bielsa seine Strategie nicht an. Da er eine mannorientierte Verteidigung spielen lässt, sind verlorene Zweikämpfe beziehungsweise Laufduelle riskant. Wechselt ein gegnerischer Flügelspieler beispielsweise die Seite, ist der Verteidiger dazu angehalten, ihm zu folgen. Anderen Spielern des Gegners eröffnet dieses Vorgehen Freiräume, die sie ausnutzen und bespielen können.

Es ist eine „High risk, high reward“-Strategie, die in Bielsas zweiter Premier-League-Saison nur noch ansatzweise funktioniert. Nach einem 0:4 gegen die Tottenham Hotspurs steht Leeds auf einem Abstiegsplatz, woraufhin Bielsa im Februar 2022 entlassen wird.

Der Traum mit Uruguay

Trotz seines Alters schließt er ein Karriereende aus. Der AFC Bournemouth und River Plate bemühen sich vergeblich um ihn. Im Mai 2023 übernimmt er die Nationalmannschaft Uruguays, die ein halbes Jahr zuvor bei der WM in Katar in der Gruppenphase ausgeschieden ist. „Wir holen jemanden, von dem wir wissen, dass er uns ein Vermächtnis hinterlassen wird, das über die 90 Minuten eines Spiels hinausgehen wird“, sagt Jorge Casales, Vorstandsmitglied des uruguayischen Verbandes.

Vor allem die jüngeren Spieler wie Federico Valverde (25), Darwin Núñez (24) und Manuel Ugarte (22) sollen von der Erfahrung des 68-jährigen Trainers profitieren. Jetzt, nachdem sich die erfolgreichen Angreifer Edinson Cavani (36 Jahre) und Luis Suárez (36) aus der Nationalmannschaft verabschiedet haben, ist ihre Zeit. Der Start ist schon mal vielversprechend: Im Oktober besiegt Uruguay den Rekordweltmeister aus Brasilien im WM-Qualifikationsspiel dank der Tore von Núñez und Nicolás de la Cruz mit 2:0.

Bielsa hat einen Vertrag bis zur WM 2026 unterschrieben. „Uruguay kann träumen und hat das Zeug dazu, diesen Traum zu verwirklichen“, sagte er mit Blick auf die nächste WM-Endrunde, die in Kanada, Mexiko und den USA stattfinden wird. Valverde und Núñez sind dann im besten Fußballeralter. Wer, wenn nicht Bielsa, könnte die stolze Fußballnation zur Sensation führen?

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