Der amtierende Fußballweltmeister Frankreich schöpft aus einem reichhaltigen Talentpool. In der Bundesliga sind französische Profis beliebt wie nie zuvor. Auf welchen Säulen beruht der Erfolg der Jugendarbeit Frankreichs?
Wirklich 52? Wie eine Studie des CIES Football Observatory zeigt, wurden 52 Spieler der Weltmeisterschaft 2018 in Frankreich geboren. Dabei umfasst der Kader des Titelgewinners wie der jeder anderen Auswahl nur 23 Akteure. Wie kommt man also auf 52? Nun, die anderen 29 Nationalspieler wurden zwar in Frankreich geboren, laufen allerdings für ein anderes Land auf. Für jenes Land, aus dem eines oder beide Elternteile stammen. Wie zum Beispiel dem Senegal, Kamerun, Marokko, Tunesien oder Portugal.
Allein vier Nationalspieler Senegals bei der WM 2018 kamen im Großraum Paris zur Welt. Im französischen Weltmeisterkader waren acht Akteure, die in den Pariser Vorstädten aufwuchsen. Zahlreiche Spieler mit doppelter Staatsbürgerschaft entscheiden sich gegen Frankreich aufgrund der dort herrschenden Leistungsdichte. Nationalspieler in Algerien zu werden, ist im Gegensatz dazu etwas einfacher.
Wie hoch die Qualität der Equipe Tricolore ist, durften mehrere Stars selbst erleben, nachdem sie nicht zur WM nach Russland reisen durften: darunter Anthony Martial (Manchester United), Alexandre Lacazette (FC Arsenal), Karim Benzema (Real Madrid) oder Kingsley Coman (FC Bayern München). Frankreich hätte gut und gerne zwei hochkarätige Nationalmannschaften abstellen können, die sich beide vor keinem Gegner hätten verstecken müssen.
Fußballhochburg Paris
Um zu verstehen, wieso gerade Paris als Hochburg des Fußballs gilt, muss man sich die Herkunft der Profifußballer ansehen. Viele wuchsen in den sogenannten Banlieus auf – fernab vom schmuckvollen Innenstadtleben. Triste Hochhaussiedlungen, Armut, Enge. Immigrantenfamilien leben dicht an dicht. Durch den Fußball können Kinder und Jugendliche den Alltagssorgen entfliehen, der Sport ist zugleich auch eine Chance auf ein besseres Leben.
Nach der Schule schnappen sich die Kinder einen Ball, gehen auf die Straße oder in den Hinterhof, stellen zwei Trinkflaschen als Torpfosten auf und dann spielt man bis in die Abendstunden. Französische Fußballprofis gelten als besonders stark im Dribbling und technisch versiert. In der Jugend legen sie die Grundlage dafür: Sie trauen sich Tricks, die sie aus dem Fernsehen kennen. Sie spüren keinen Druck, rennen sich mitunter fest und lernen aus ihren Fehlern infolge von vielfacher Wiederholung. So kann sich individuelle Kreativität herausbilden.
Anfang der 1990er Jahre stellte der US-Psychologe Anders Ericsson zusammen mit seinen deutschen Kollegen Ralf Krampe und Clemens Tesch-Römer die sogenannte 10.000-Stunden-Regel auf. Ericsson hatte herausgefunden, dass extrem erfolgreiche Menschen, wie beispielsweise Wolfgang Amadeus Mozart, bis zu ihrem 20. Lebensjahr durchschnittlich 10.000 Stunden Training hinter sich hatten. Auch wenn die 10.000 Stunden Regel ihre Kritiker hat, steht außer Frage, dass Fleiß, Disziplin und Durchhaltevermögen unerlässlich sind für eine erfolgreiche Karriere.
Frankreichs Nachwuchsakademien
Eine Reportage des Aspen Instituts und Tom Farrey vom 9. Oktober 2018 mit dem Titel „Wie Frankreich wirklich Weltmeister wurde“ vergleicht die Jugendarbeit seines Heimatlands USA mit der Frankreichs. Farrey besuchte das nationale Leistungszentrum in Clairefontaine, in dem 13- bis 15-Jährige fünf Tage die Woche Schule und Fußballtraining verbinden. Das Wochenende verbringen sie bei ihren Eltern. Auch Superstar Kylian Mbappe (Paris Saint-Germain), Blaise Matuidi (Juventus Turin) und Raphaël Guerreiro (Borussia Dortmund) besuchten Clairefontaine. Im ganzen Land gibt es 15 solcher Leistungszentren.
In Farreys Wahrnehmung hat die französische Jugendarbeit eher das Anliegen, das Talent der Spieler zum Vorschein kommen zu lassen statt die Jungspunde in ein Korsett zu pressen und stets nach einem festen Schema vorzugehen. „Es ist mehr Gartenarbeit als Produktion“, schreibt Farrey. Man will großartige Umstände schaffen, damit das Talent der Nachwuchskicker sich bestmöglich entfalten kann.
Die Ausbilder legen viel Wert auf technische Feinheiten: Ballanahme, Beidfüßigkeit, Seitenverlagerungen, Flanken und den Torabschluss mit Präzision anstatt mit Kraft. Auch das Lesen und Antizipieren von Spielsituationen ist ein wichtiger Bestandteil des Trainings.
In der Altersklasse 13 bis 15 wird in den französischen Akademien nicht viel Wert auf die Weiterentwicklung physischer Merkmale (wie Kraft und Schnelligkeit) gelegt. Die Jugendlichen sollen experimentierfreudig sein und Fehler machen dürfen. Niemand wird bestraft, wenn etwas nicht gelingt.
Das biologische Alter und der relative Alterseffekt
Um zwischen dem tatsächlichen Alter und dem biologischen Alter der jungen Sportler zu unterscheiden, wird jeweils das linke Handgelenk der Akademiebesucher geröngt. Teilweise unterscheiden sich beide Kennzahlen beträchtlich. Ein 13-Jähriger könnte vom biologischen Alter bereits 17 sein oder erst zehn.
Selbst wenn man zwei Spieler miteinander vergleicht, die sowohl biologisch als auch tatsächlich 13 Jahre alt sind, könnte einer der beiden einen Vorteil besitzen, sofern er zu einem frühen Zeitpunkt im Jahr (z.B. im Januar) geboren wurde und sein Kollege zu einem späten (z.B. im Dezember).
Im Extremfall liegen 364 Tage zwischen zwei Gleichaltrigen, die in derselben Jugend entweder miteinander trainieren oder gegeneinander spielen. Scouts und Trainer schenken oft älteren Spielern, die im Durchschnitt physischer und kräftiger sind, mehr Aufmerksamkeit. Sie werden mehr gefördert als jüngere, die zwar technisch gleichwertig oder manchmal sogar besser sind, sich aber (noch) nicht im Zweikampf durchsetzen können.
Welch elementare Rolle das Geburtsdatum hat, zeigt eine Studie aus dem deutschen Nachwuchsfußball aus dem Jahr 2014, die fast 1700 Nachwuchsspieler zwischen der U8 und U19 erfasste. Weniger als zehn Prozent von ihnen wurden im letzten Quartal geboren, dagegen aber mehr als drei Viertel in den ersten sechs Monaten. Dieses Phänomen, welches auch aus anderen Sportarten bekannt ist, bezeichnet man als relativen Alterseffekt. Nimmt man die normale Geburtenverteilung als Maßstab, kommen mit minimalen Abweichungen in jedem Quartal gleich viele Menschen zur Welt.
In Frankreich scheint man dem relativen Alterseffekt mehr Beachtung in der Beurteilung von Nachwuchskräften zu schenken als zum Beispiel in Deutschland. Im aktuellen A-Kader der DFB-Herren lassen sich keine Spieler finden, die im November oder Dezember geboren wurden, stattdessen allerdings sieben, die im Januar oder Februar Geburtstag hatten.
Bei Les Blues sieht es anders aus: Der 21-jährige Franzose Kylian Mbappe von Paris Saint-Germain, der wohl vielversprechendste Nachwuchsstürmer der Welt, wurde am 20. Dezember 1998 geboren. Tanguy Ndombele von den Tottenham Hotspurs am 28. Dezember 1996. Thomas Lemar von Atletico Madrid am 12. November 1995. Die beiden französischen U21-Nationalspieler Eduardo Camavinga (*10. November 2002) und Boubacar Kamara (*23. November 1999) sind ebenfalls nicht durchs Altersraster gefallen. Beide besitzen beste Voraussetzungen, um den französischen Fußball über die kommenden Jahre prägen zu können. Camavinga spielt bei Stade Rennes, Kamara bei Olympique Marseille. In ihrem jungen Alter werden beide bereits jetzt von europäischen Spitzenklubs umworben.
Zahlreiche weitere französische Talente stehen in den Startlöchern, wie die beiden Leipziger Dayot Upamecano (21) und Ibrahima Konate (21), Moussa Diaby (21) von Bayer Leverkusen, Evan N’Dicka (20) von Eintracht Frankfurt, Jules Kounde (21) vom FC Sevilla, William Salilba (19) vom FC Arsenal, Benoit Badiashile (19) von der AS Monaco oder Bayern Münchens Neuzugang Tanguy Kouassi (18).
On parle le français
In der Bundesliga sind französische Kicker beliebt wie nie zuvor. Während vor sieben Jahren mit Franck Ribery (FC Bayern München), Jonathan Schmid (SC Freiburg) und Mathieu Delpierre (TSG 1899 Hoffenheim) nur drei Franzosen im Nachbarland ihr Geld verdienten, sind es in der Saison 2019/2020 schon 27 Gastarbeiter. Nur Österreich kommt auf mehr Bundesliga-Kicker (32).
Der ehemalige Leipziger Cheftrainer und Sportdirektor Ralf Rangnick weiß um das Niveau des französischen Fußballs. „Wir suchen Spieler, die etwas von diesem Typus ‚Straßenfußballer‘ an sich haben, aber wir wollen auch Spieler, die sowohl technisch als auch taktisch gut ausgebildet sind. Frankreich ist dafür ein guter Markt. Es gibt viel Qualität im Land und ein gutes Ausbildungsniveau auf Jugendniveau.“
Flexibilität und Improvisation
Frankreichs Profifußball erntet bereits jetzt und vor allem in den nächsten Jahren und Jahrzehnten die Früchte, die durch nachhaltige und hochwertige Jugendarbeit als Saatgut eingebracht wurden. Kinder und Jugendliche spielen in Frankreich nicht nur in der Abwehr oder nur im Sturm, sondern viele probieren im Laufe ihrer Jugendfußballerlaufbahn mehrere Positionen aus.
Technik hat Vorrang vor Taktik, Spaß hat Vorrang vor Drill. Außerdem scheinen die französischen Fußballlehrer begriffen zu haben, dass es im Jugendfußball wenig förderlich ist, sich auf das Gewinnen und Resultate zu konzentrieren. Viel wichtiger sind das Fördern von Improvisationsfähigkeiten und der technischen Finesse junger Sportler.
Im Interview mit Goal sagte Jean-Michael Vandamme, Leiter der Jugendakademie des OSC Lille: „Man kann eine gute Jugendarbeit nicht an einem Tag aufbauen. Es braucht Jahre der Erkenntnisse, um dorthin zu gelangen, wo wir heute sind. Man muss die Spieler zudem als Menschen ansehen und nicht als potentielle Profis. Man muss ihre Bedürfnisse kennen und ihnen das Gefühl geben, dass Fehler erlaubt sind. Nur dann gedeihen Talente gut.“
Beim OSC Lille wurde ein altes Landgut umfunktioniert zu einem idyllischen Vereinszentrum für Profis und Jugendmannschaften. Rote Backsteinhäuser, Schatten werfende Bäume und hellgrüne Rasenplätze lassen auf perfekte Voraussetzungen schließen, um zur Ruhe zu kommen und sich auf die Schönheit des Fußballs zu besinnen, abseits von windigen Agenten und habsüchtigen Sponsoren. Als Lille 2011 überraschend französischer Meister wurde, stammten elf von 25 Spielern im Kader aus dem eigenen Nachwuchs. Die Gegenwart des französischen Fußballs ist rosig, die Zukunft verspricht viele weitere ertragreiche Ernten.