Kyrie Irving spielte an der Seite des besten Basketballers der Welt. Für viele eine Wunschvorstellung, für ihn war es das nicht mehr. Jetzt hat er eine neue Herausforderung gefunden.
Wer Kyrie Irving beim Basketballspielen zusieht, könnte den Eindruck gewinnen, die Erdanziehungskraft gibt es nicht. Mit welcher Sicherheit der 25-jährige den Ball behandelt, mit welcher Eleganz er am Ring abschließt und wie er komplizierte Dribblings wie aus einem Videospiel aussehen lässt, ist auch in der NBA, in der es vor Überathleten nur so strotzt, einzigartig. Der Basketball gleitet selbst in größter Bedrägnis in seine Hände zurück. Es wirkt fast so, als hätte der gebürtige Australier Magneten in den Händen. Irving ist nicht der allerbeste Spieler der Liga. Aber er ist ein Künstler, der Fans zum Staunen bringt oder mit dem Kopf schütteln lässt.
Wechselwunsch wie aus dem Nichts
Obwohl der US-amerikanische Nationalspieler zu den Aushängeschildern der Liga gehört, war sein Name in den letzten drei Jahren zwangsläufig mit einem anderen verbunden. LeBron James, der gemeinhin als bester Spieler der Welt gilt. Der sieben Jahre jüngere Irving der Edelhelfer für den 32-jährigen. Dreimal zogen beide mit den Clevland Cavaliers in die NBA Finals ein, 2016 der Höhepunkt mit dem Titel. Irving wurde mit einem späten Dreipunktewurf im entscheidenden siebten Spiel zum Matchwinner. Zum besten Spieler der Finalserie wurde jedoch James gewählt.
LeBron war Batman, Kyrie war Robin. Von dieser Rollenverteilung hatte er genug. Er forderte im Juli den General Manager auf, ihn zu traden, ihn also für einen Gegenwert zu einem anderen Team zu transferieren. Eine derart nachdrückliche Forderung ist äußerst selten in der NBA. Vor allem für einen Spieler, der mit seinem Arbeitgeber erfolgreich ist.
Offenbar will Irving schwierigen Prüfungen nicht aus dem Weg gehen, er hält nach geradezu Ausschau. So war es schon in der High School in New Jersey, als er anfangs für Teams spielte, die nicht im regionalen Fokus standen. Immer war er ihr bester Spieler. Sein Vater Drederick, früher selbst Profi in Australien, kontaktierte High School-Trainer, die den jugendlichen Sohn Schritt für Schritt besser machen sollten. Unter Trainer Sandy Pyonin beispielsweise sollte Irving in verschiedende Richtungen dribbeln und gleichzeitig hüpfen. Oder er ließ ihn Hakenwürfe von der Freiwurflinie trainieren. Ungewöhnliche Methoden, der Effekt war aber groß.
Irving überragt bei der WM 2014
Mit der Zeit empfahl er sich für prestigeträchtigere Hochschulprogramme. Irving wechselte an die St. Patrick High School, dort traf er auf Michael Kidd Gilchrist, der später selbst in der NBA für die Charlotte Hornets auflaufen sollte. Dann wurde College-Trainer Mike Kryzewski auf ihn aufmerksam. Ein Ritterschlag für jeden angehenden Profi. 2010 spielte er für den renommierten Trainer der Duke Blue Devils, verletzungsbedingt allerdings nur in 11 Spielen.
Die Stichprobe war für die Verantwortlichen der Clevland Cavaliers dennoch groß genug, die ihn an erster Position des NBA Drafts auswählten. Coach Kryzweski sollte Irving 2014 wiedersehen, bei den Weltmeisterschaften für das Team USA. Nach dem Finale wurde Irving als bester Spieler des Turniers ausgezeichnet, während Headcoach Kryzewski Beifall klatschte.
Am 22. August 2017, rund einen Monat nach seiner Trade-Anfrage, landete er beim sportlich ärgsten Rivalen in der Eastern Conference. Bei den Boston Celtics, die im Tausch einen Erstrundendraftpick, Isaiah Thomas, Jae Crowder und Ante Zizic an Clevland abgaben. Auf ein Mal hatte Irving, der seit 2011 bei den Cavaliers spielte, sein Team – und er sollte es anführen. Isaiah Thomas, der 1,75 Meter große Topscorer der Celtics, wurde neuer Kronprinz von James.
Doch während die Saison für Thomas nach einer Verletzung erst in ein paar Wochen beginnt, hat Irving mehr als angedeutet, dass die neue Rolle für ihn keine Bürde ist. Er hat einfach Spaß und die fanatischen Fans aus Boston stärken ihm den Rücken. Sie nehmen es Irving nicht übel, dass der Publikumsliebling Thomas seine Zelte nun in Clevland aufschlagen muss.
Fiasko und Siegesserie
Nach 19 Siegen aus 23 Saisonspielen liegen die Boston Celtics nicht nur auf Rang 1 in der Eastern Conference, sondern sind von der Bilanz her ebenfalls das erfolgreichste Team der Liga. Dabei verloren die Celtics ihre ersten beiden Partien. Noch viel bitterer: Der tragische Ausfall von Gordon Hayward. Der Allstar von 2017 wird Boston aufgrund eines Knöchel- und Schienbeinbruchs wohl die gesamte Saison fehlen. Schon zu Saisonstart lastete auf Irving noch mehr Verantwortung als ohnehin schon.
Die Experten hatten vermutet, dass der hochtalentierte aber unerfahrene Kader von Boston nicht ausreichen würde für ganz hohe Ansprüche. Nach den ersten Wochen wurde aber schnell deutlich, dass die Experten die Rechnung ohne Trainerfuchs Brad Stevens, den 19-jährigen Jayson Tatum, den 21-jährigen Jaylen Brown und vor allem Irving gemacht hatten.
Nach den zwei Pleiten zu Beginn, stellte die Mannschaft eine Serie von 16 Siegen hintereinander auf. Mehrmals holten sie einen Rückstand auf. Zudem hat Boston bislang die beste Verteidigung der NBA. Sie lassen nur 95 Punkte pro Partie zu. Ein Bereich, den der viermalige Allstar nicht zu seinen Stärken zählen kann. Aber auch hier hat er Fortschritte gemacht.
Noch wichtiger ist Irving, der mit vier Jahren seine Mutter verlor, aber im Angriff. Er ist Bostons trickreicher Ausweg, wenn der geplante Spielzug misslingt. Sein großer Auftritt bricht heran, wenn ein enges Spiel in die Schlussphase geht. In den letzten fünf Minuten in knappen Spielen (von fünf Punkten Vorsprung bis zu fünf Punkten Rückstand) hat kein Spieler eine höhere Feldwurfquote als Irving (61,5%). Auch bemerkenswert: In dieser Zeit hat er keinen einzigen Ballverlust verschuldet. Die Aussagekraft folgender Statistiken ist zwar nach etwa einem Viertel der Saison begrenzt, aber die Art und Weise, wie Irving Boston zu jetzt schon acht Aufholjagden geführt hat, verdient Anerkennung.
Wiedersehen mit Clevland in den Playoffs?
Lobende Worte für ihn findet auch Stevens: „Er ist freilich einer der talentiertesten Punktesammler der Liga. Er kann mit dem Ball auf engstem Raum Dinge anstellen und es so einfach aussehen lassen, das ist sehr, sehr schwierig.“ Gegen Dirk Nowitzkis‘ Dallas Mavericks erzielte der Point Guard 47 Punkte. Im Schnitt sind es 23,4 pro Spiel, etwas weniger als in Clevland, wo er allerdings auch mehr Einsatzminuten bekam.
Die Cavaliers haben sich nach einem fürchterlichen Saisonstart wieder gefangen und sind wahrscheinlich Bostons größter Konkurrent im Kampf um den Einzug in die NBA Finals. Bis es zu einem möglichen Aufeinandertreffen in den Playoffs kommt, ist es noch einige Monate hin. Der Gedanke an dieses Duell dürfte bei Kyrie Irving Vorfreude auslösen statt Angstzustände. Dafür liebt er zu sehr die Herausforderung. So hat er es seit der High School getan.