Die Atlanta Falcons (6-4) aus der amerikanischen Footballliga (NFL) haben nach dem knappen 34:31-Erfolg bei den Seattle Seahawks (6-4) wieder die Playoffs im Blick, nachdem diese im Oktober schon in die Ferne gerückt waren.
Man stelle sich vor, es ist Weihnachten. Der Wunschzettel war dieses Jahr überschaubar, aber man hat das Präsent der Begierde doppelt unterstrichen. Ein symbolischer Wink mit dem Kugelschreiber: Das Christkind soll sich bewusst machen, dass dieses Geschenk wichtiger ist als der gewöhnliche Kleinkram. Am Heiligabend wirft man sehnsüchtig einen Blick unter den Tannenbaum, in der Hoffnung den Fußball zu identifizieren, der einen ein halbes Jahr nicht losgelassen hat. Und ja, unter einer Schicht dichter Zweige leuchtet in rot-goldener Verpackung ein rundes Etwas hervor.
Die Bescherung ist zwar erst nach dem Essen, insgeheim träumt man aber schon davon, am nächsten Morgen die Freunde auf dem Bolzplatz mit dem teuren Lederball beeindrucken zu können. Nachdem der Hunger gestillt und noch einmal „Gute Freunde kann niemand trennen“ leise vor sich hin gesummt wird, greift man hastig zum einzigen Geschenk, das an Weihnachten zählt. „Verpackungen werden überbewertet“ ruft man verträumt der Oma hinterher, die bei Geschenkpapier auf Recycling steht. Dieser Moment, wenn der in Gedanken schon zum Einsatz gekommene Fußball sich in Realität als Aquarium für Goldfische entpuppt, ist schwer zu verkraften.
Der Sieg lag auf dem Silbertablett
Wie ein Kind, das am Weihnachtstag nicht nur eine Gefühlsachterbahnfahrt unternimmt, müssen sich die Atlanta Falcons vor fast zehn Monaten gefühlt haben. Wahrscheinlich hängen sie diesem Abend in Houston auch heute noch hinterher. Die letzte Saison war für Atlanta eine sehr erfolgreiche. Quarterback Matt Ryan wurde zum wertvollsten Spieler der Liga gewählt. Gerade die Offensive um Passempfänger Julio Jones spielte sich in einen Rausch und schien auch am 5. Februar 2017 im Super Bowl die Oberhand zu haben. 28:3 lagen die Falcons gegenüber den New England Patriots fünfzehn Minuten vor Spielende noch in Führung.
Das größte Einzelsportereignis der Welt mutete für die Rot-Weißen wie eine Trainingseinheit an. Mark Wahlberg, Schauspieler und selbsternannter Edelfan der Patriots hatte längst die Flucht aus dem Stadion ergriffen, als Tom Brady Feuer fing. Der Quarterback der Patriots führte sein Team zu einem Touchdown nach dem anderen. Es wirkte so als hätte jemand den Stecker der gesamten Falcons-Mannschaft gezogen. Vor dem Ende der regulären Spielzeit glich New England zum 28:28 aus, in der Verlängerung veredelte der damals 39-jährige sein Vermächtnis mit seinem fünften Super Bowl-Ring. Die größte Aufholjagd in der Geschichte des Super Bowls war perfekt.
So ein Drama muss Spuren hinterlassen. Die Atlanta Falcons veränderten sich im Frühsommer hinsichtlich des Kaders nur marginal. Die erheblichste Neuerung erlebte der Trainerstab, denn der frühere Offensive Coordinator Kyle Shanahan wurde Cheftrainer in San Fransisco. Er wurde durch Steve Sarkisisan ersetzt. Doch die Hauptaufgaben der Trainer waren weniger taktischer Natur. Sie mussten den Frust der Spieler zumindest lindern und wieder eine positive Arbeitsatmosphäre schaffen wie sie bis Anfang Februar in Atlanta geherrscht hatte.
Die Ergebnisse waren zu Saisonstart zwar positiv, doch die knappen Siege in Chicago oder gegen Detroit hätten auch anders ausgehen können. Nach einer einwöchigen Spielpause in Woche fünf gingen drei der kommenden vier Spiele verloren. Beim Heimspiel gegen die Miami Dolphins verspielte Atlanta einen 0:17-Rückstand. Triste Erinnerungen wurden wach. Erst mit dem Sieg gegen Dallas vor einer Woche, scheint sich das Momentum gedreht zu haben. Auch die Leistung, gerade die der offensiven Spieler, entspricht wieder annähernd der aus dem Vorjahr.
Atlanta attackiert gezielt Seattles Schwachstellen
Am Dienstagmorgen deutscher Zeit traf man auf die Seattle Seahawks, die in der NFC-Divison mit den Falcons um die Playoffs konkurrieren. Schon vor dem ersten Tackle der Partie war klar, dass die hintere Passverteidigung der Seahawks enorme Probleme bekommen würde. Richard Sherman und Kam Chancellor fallen beide länger aus. Nach wenigen Minuten Spielzeit musste zudem Shermans Vertreter Shaquill Griffin verletzt raus.
Die sonst so gefürchtete Defensive ist aktuell dezimiert und folglich auch qualitativ schlechter. Matt Ryan fand seine bevorzugten Passempfänger Julio Jones und Mohamed Sanu, auch Justin Hardy hatte den ein oder anderen taffen Fang. Vor allem Seattles Passverteidiger Jeremy Lane hatte mit dem Tempo der Falcons zu kämpfen. Oft deckte er seinen Gegenspieler bewusst nicht so eng, um bei tiefen Passrouten nicht überholt zu werden.
Trotz einer frühen Interception von Seattles Quarterback Russell Wilson, blieb der Gastgeber in Schlagdistanz. Und das lag in erster Linie am 28-jährigen selbst, der bei seinen gefürchteten Läufen selbst wieder ordentlich Schaden anrichtete. In der NFL gibt es wohl keinen Quarterback, der im Lauf und unter Druck den Football so präzise an den Mitspieler anbringt wie Wilson.
Adrian Clayborn, der Defensive End von Atlanta, der gegen Dallas überragende sechs Mal den Quarterback zu Boden riss, war auch diesmal produktiv. Ein Mitspieler war durch die Offensive Line der Seahawks, die zu den löchrigsten der Liga zählt, durchgebrochen und hatte Wilson den Ball aus der Hand geschlagen. Clayborn musste schlicht nur noch den Ball vom Boden aufheben und in die Endzone tragen – Touchdown Falcons, 20:7. Das Laufspiel der Seahawks und die kurzen Pässe auf die Runningbacks waren ein probates Mittel, auch deswegen blieben sie in der zweiten Hälfte im Spiel.
Walsh kickt Field Goal daneben
Aber Atlanta sezierte konstant die Passverteidigung der Seahawks. Das System der Cover 3-Verteidigung bei Seattle setzt voraus, dass die Cornerbacks (die hinteren Passverteidiger) ihren Mann im Eins gegen Eins-Duell stoppen, da nur ein Safety in der Mitte aushelfen kann. Doch das Personal war an diesem Abend nicht mit der taktischen Ausrichtung kompatibel. Da nützte auch Wilsons Touchdown-Pass auf Doug Baldwin drei Minuten vor Schluss nichts mehr. Das Field Goal beim Stand von 34:31 verpasste Blair Walsh aus 52 Yards (etwa 47,5 Meter). Ein Treffer hätte die Verlängerung bedeutet.
Atlanta steht nun mit sechs Siegen und vier Niederlagen auf dem letzten Playoffrang der NFC. Keiner wird im Umfeld der Falcons anfangen, vom Super Bowl zu träumen. Dafür ist die bisherige Saison zu unbeständig. Aber eines haben die Falcons exklusiv, ohne Drama geht es nicht. Das bis zuletzt aufreibende Spiel gegen die Seattle Seahwaks war im Gegensatz zum Super Bowl gegen die Patriots ja fast schon langweilig. Ob die Falcons die reguläre Spielzeit überstehen und vielleicht noch mehr, wissen wir nach Weihnachten.