Der Kanadier James Naismith hat die Sportart Basketball in den 1890er Jahren erfunden. Fast 130 Jahre später haben die Toronto Raptors als erstes kanadisches Team einen NBA-Titel gewonnen.
Nur zwei Mannschaften gelang es in den letzten vier Jahren, die Golden State Warriors in einer Playoff-Serie zu besiegen. Die Cleveland Cavaliers schafften das im Finale 2016 im siebten und entscheidenden Spiel. 2015, 2017 und 2018 setzten sich jeweils die Warriors die NBA-Krone auf. Mit dem 114:110-Erfolg der Toronto Raptors über die Golden State Warriors im sechsten Finalspiel haben auch die Kanadier dieses Kunststück vollbracht und sich zum ersten Mal in ihrer Franchise-Geschichte zum Meister gekürt.
Die Gründe des Erfolgs sind vielschichtig: Natürlich ist Kawhi Leonard zu nennen, der 2017/2018 fast die komplette Spielzeit im Dress der San Antonio Spurs aussetzte, weil er sich gesundheitlich nicht bereit fühlte. Eine Quadrizeps-Verletzung empfand Leonard ernster als der medizinische Stab der Spurs, welcher Leonard eigentlich die Freigabe erteilte.
Im Laufe der Zeit kam es zum Bruch beider Parteien: Im vergangenen Sommer fädelte San Antonio mit den Raptors einen Trade ein: Leonard und Danny Green kamen nach Toronto, während DeMar DeRozan und Jakob Pöltl nach Texas wechselten.
Ujiri pokert
Torontos General Manager Masai Ujiri ging mit dem Trade für Leonard „All in“, mit dem Wissen, dass der Flügelspieler nach einer Saison wieder weg sein kann. Schon in der regulären Saison stellte Leonard seine Qualität unter Beweis, nur um in den Playoffs noch eine Schippe draufzulegen. Die Verletzung aus der Vorsaison schien ihn überhaupt nicht mehr zu beeinträchtigen. Und sobald der 27-Jährige sich schlapp und müde fühlte, setzte er eine Partie aus.

In den Conference Semifinals gegen die Philadelphia 76ers agierte Leonard stellenweise als Einzelkämpfer. Wie einer der 300 Spartaner, der sich gegen die persische Übermacht behauptet, wohingegen jeder seiner Mitspieler so seine Probleme hatte. Mit seinem verrückten Wurf im siebten Spiel sorgte Leonard darüber hinaus für das Weiterkommen – und für das Sportfoto des Jahres.
In den Conference Finals gegen die Milwaukee Bucks lag Toronto schon 0:2 zurück. Dann unternahmen die Raptors ein paar Anpassungen in der Defensive, vertrauten auf die eigene Stärke und kehrten wieder zum Teambasketball zurück. Die folgenden vier Spiele gingen allesamt an die Raptors. Diesmal trumpfte nicht nur Leonard auf, sondern auch Pascal Siakam, Kyle Lowry, Serge Ibaka, Marc Gasol oder Fred van Vleet, der nach der Geburt seines Sohnes den Wurf wiederfand.
Auch im Finale präsentierten sich die Raptors als Einheit. Gleich sechs Spieler punkteten im Schnitt zweistellig: Finals-MVP Leonard (28,5 Punkte), Siakam (19,6), Lowry (16,2), VanVleet (14), Gasol (12) und Ibaka (11,3). Das Team übernahm die Identität ihres besten Spielers Kawhi Leonard, abseits des Parketts ein ruhiger, fast schüchterner Zeitgenosse, der aber belastbar und druckresistent ist wie kaum ein zweiter. Die Raptors erwiesen sich über die gesamten Playoffs als äußerst strapazierfähig.
Einst eine Schar Unterbewerteter
In Finalspiel sechs bewies Fred VanVleet Nervenstärke, als er im Schlussabschnitt drei Dreipunktewürfe versenkte. Normalerweise ist der nur 1,83 Meter große Point Guard die Alternative zu Kyle Lowry, doch an diesem Abend demonstrierte er eindrücklich, dass alle NBA-Teams im Juni 2016 einen Fehler gemacht hatten, ihn nicht zu draften. Über den Umweg Summer League schloss sich VanVleet den Raptors an, jetzt hatte der 25-Jährige mit insgesamt 22 Punkten seinen beeindruckendsten Auftritt in einer Liga, die ihn zunächst abblitzen ließ. „Kawhi kann schließlich nicht alle Würfe nehmen“, sagte VanVleet anschließend spitzbübisch.
Auch Pascal Siakam gehörte zu den Unterschätzten. Von den Raptors vor drei Jahren an Position 27 gedraftet, hat sich der Kameruner inzwischen zum zweitbesten Afrikaner der NBA entwickelt. Der 33-jährige Kyle Lowry war in den Vorjahren in die Kritik geraten, er würde seine Leistungen nicht in den Playoffs abrufen. Zwischen 2016 und 2018 waren die Raptors mit Lowry jedes Mal an den Cleveland Cavaliers um LeBron James gescheitert. Im sechsten Finalspiel ging Lowry voran, erzielte 26 Punkte und damit mehr als Leonard (22). Außerdem verteilte er den Ball zehn Mal für einen direkten Korberfolg.
Nicht nur in der Offensive ergänzten sich die einzelnen Bausteine prächtig, sondern auch in der Defensive. Über die 82 Spiele in der regulären Saison stellten die Raptors die fünftbeste Verteidigung der NBA, dieses Niveau hielt die Mannschaft von Trainer Nick Nurse auch in den Playoffs. Natürlich kam den Raptors auch zugute, dass viele ihrer Gegenspieler kaum Gefahr aus der Distanz ausstrahlten. Mit Ausnahme von Stephen Curry und Klay Thompson wollte bei den Warriors wenig fallen. Dazu passten die Raptors (12,2 Ballverluste pro Partie) besser auf den Spalding auf als die Warriors (15,5).
Gewiss spielten die Verletzungsprobleme der Warriors den Kanadiern in die Karten: Center DeMarcus Cousins war nach einem Muskelriss im Oberschenkel noch nicht ganz der Alte; wegen eines Achillessehnenrisses hatte der 2,11 Meter Mann bereits die halbe Vorsaison verpasst.
Klay Thompson zerrte sich in Spiel zwei der Finals den Oberschenkel, weshalb er die dritte Partie versäumte. In Spiel sechs musste er Ende des dritten Viertels ausgewechselt werden und kam nicht mehr zurück, da Danny Green ihn beim Dunking-Versuch gefoult hatte. Bei der Landung verdrehte sich Thompson das Knie, Diagnose: Kreuzbandriss. Green war keine böse Absicht zu unterstellen, der Ausfall des Scharfschützen ist für Golden State jedoch bitter. Auch Kevon Looney schleppte sich aufgrund einer Fraktur am ersten Rippenknorpel durch die Serie.
Womit die Liste noch nicht zu Ende wäre: Der bittere Ausfall von Top-Star Kevin Durant, war selbst für die Warriors nicht so eben aufzufangen. Wegen einer Wadenverletzung war Durant über einen Monat arbeitsunfähig. Zum fünften Spiel kehrte er zurück und legte los, als besäße er kein Langzeitgedächtnis. In zwölf Minuten Einsatzzeit erzielte er 11 Punkte, dann nach einem Dribbling allerdings blieb er liegen. Die Partie war für Durant beendet. Wenige Stunden später wurde bekannt, dass er einen Achillessehnenriss erlitten hat und vermutlich die komplette nächste Saison ausfällt. Wie die Serie mit einem fitten Durant ausgegangen wäre, kann niemand orakeln.
Verdienter Champion
Die Warriors gingen im Finale nach über 100 Saisonspielen auf dem Zahnfleisch – trotzdem sollte das den Titelgewinn der Raptors nicht schmälern. Immerhin spielten die beiden All-Stars Stephen Curry und Draymond Green in jedem Spiel, Klay Thompson stand meist auch auf dem Parkett. Des Weiteren hat Toronto mit den Erfolgen über Philadelphia und Milwaukee zwei legitime Final-Aspiranten aus dem Weg geschafft. Sich in der Saison 2018/2019 im Osten durchzusetzen, war keine Kaffeefahrt.
Selbst der Erfolg über die Warriors war hochverdient. Wer alle drei Auswärtsspiele bei den Warriors gewinnt, hat Anerkennung und Zuspruch verdient. Auch die Gegner schlossen sich dem an: „Ich ziehe meinen Hut vor Toronto für diese Serie. Sie sind rausgekommen und haben es sich verdient“, sagte Stephen Curry.
Nicht nur in Toronto gingen Menschenmassen auf die Straßen, um vor riesigen Leinwänden den Erfolg zu zelebrieren, auch in Vancouver, Edmonton oder Calgary traf man sich zum Rudelkucken. Das fünfte sowie sechste Spiel sahen sich acht Millionen Kanadier vor dem Fernseher an (in der Spitze sogar zehn Millionen), dabei leben im ganzen Land insgesamt nur 37 Millionen.
Larry Tannenbaum, Eigentümer der Toronto Raptors, blickte bereits bei der Übergabe der Trophäe hoffnungsvoll in die Zukunft. „Die Trophäe wird in Kanada bleiben“, sagte er optimistisch. Um berechtigte Chancen auf die Titelverteidigung zu haben, müsste Kawhi Leonard aber in Toronto bleiben. An diesem historischen Tag wollte er über seine Zukunft allerdings nicht sprechen: „Ich genieße das jetzt erst einmal mit meinen Mitspielern und den Coaches.“