Der kleine Spielmacher Shane Larkin von Anadolu Efes Istanbul ist derzeit die Attraktion Nummer eins im europäischen Basketball. Selbst der türkische Präsident Recep Tayip Erdogan hat sich dafür stark gemacht, dass Larkin zukünftig den Halbmond um die Brust trägt. Erst einmal möchte Larkin mit seinem Klub aber den EuroLeague-Titel holen.
Den 29. November 2019 wird Shane Larkin wohl nicht mehr vergessen. An diesem Freitagabend gewann er mit Anadolu Efes Istanbul zuhause gegen die Basketballabteilung des FC Bayern München mit 104:75. Sein individueller Erfolg war an diesem Abend aber noch herausragender als es der Kantersieg war. Mit 49 Punkten brach er den Rekord für die meisten Zähler einer EuroLeague-Partie, den bisherigen Punkterekord verbesserte der 27-Jährige um acht Zähler.
„Heute war einer dieser Abende, wo du die ersten paar Würfe triffst und der Ring einem Ozean gleicht“, fasste Larkin seine Gala zusammen. Er punktete nicht nur wie entfesselt, sondern agierte dabei auch noch extrem effizient. Von 12 Dreipunktewürfen verwandelte er 10, ebenfalls (geteilter) EuroLeague-Rekord.
Persönlicher Erfolg und Teamerfolg gehen bei Larkin in dieser Saison Hand in Hand. Anadolu Efes ist die aktuell beste Mannschaft Europas, hat 21 Siege und erst drei Niederlagen zu Buche stehen und 16 der letzten 17 Partien gewonnen, darunter Auswärtssiege gegen die Schwergewichte Barcelona und Real Madrid. Auch in der türkischen Liga grüßt Anadolu Efes von der Tabellenspitze mit 16 Siegen aus 18 Spielen. Larkin hat im Vergleich zur Vorsaison, die er ebenfalls in Istanbul verbrachte und die bereits erfolgreich verlief, einen weiteren Schritt gemacht.
Superlative reichen kaum aus
In der EuroLeague erzielt er 2019/2010 im Durchschnitt 22 Punkte bei sagenhaften Feldwurfquoten von 56,5 Prozent aus dem Bereich innerhalb der Dreierlinie und 51 Prozent außerhalb davon. Larkin ist der erste Spieler seit 2002, der mehr als 20 Punkte pro Spiel erzielt bei einer Feldwurfquote von über 50 Prozent. 89,9 Prozent wirft er von der Freiwurflinie. Der Point Guard zieht die zweitmeisten Fouls der EuroLeague (125) und verwandelt die meisten Dreier (76). Seine 4 Vorlagen pro Spiel beweisen, dass er auch fähig ist, für andere zu kreieren.
Im Januar machte er 25,7 Punkte im Schnitt. Von der Freiwurflinie blieb er in diesem Monat beinahe fehlerfrei: Den ersten Freiwurf vergab er noch, die nächsten 31 Versuche brachte er aber alle unter. In Woche 18, 19, 20 und 21 wurde er zum wertvollsten Spieler des Wettbewerbs (MVP) gewählt. Selbstverständlich wurde er MVP des gesamten Januars, selbiges hatte er bereits im November geschafft. Texte mit zu vielen Statistiken ermüden in der Regel den Leser, im Fall von Larkin kommt man allerdings einfach nicht drum herum. Stand heute gibt es kein Szenario, in dem ein anderer Spieler als Larkin die Trophäe des wertvollsten Spielers der Saison in Empfang nehmen wird.
Händewaschen bis die Finger rau waren
Larkin war aber nicht immer der Profi, der Statistikbücher sprengte. Als er 11 oder 12 Jahre alt war, wurde bei ihm eine Zwangsstörung diagnostiziert. Im Crossover-Podcast mit Joe Arlauckas sagte Larkin: „Ich wusste nicht, was los war. Ich konnte bestimmte Dinge nicht berühren. Ich musste bestimmte Dinge zählen. Ich konnte nicht auf bestimmte Linien treten.“
Besonders Keime und Bakterien stellten sich als Problem heraus. „Ich wusch mein Mobiltelefon. Ich habe buchstäblich Seife verwendet.“ Als Larkin im Fernsehen sah, wie Ray Allen acht Dreier verwandelte, wusch er sich stets acht Mal die Hand, wenn er im Badezimmer war bis er mit rauen, wunden Händen ins Bett fiel.
Auf dem Basketballplatz war es für den Sohn des Baseball Hall of Famers Barry Larkin aber nie ein Problem, wenn er mit einem abgewetzten, dreckigen Ball spielte. Nach einer gewissen Zeit, nahm er Medizin, um die Folgen der Zwangsstörung auch im sonstigen Alltag zu lindern. Die Medizin hatte den Effekt, dass er entspannter wurde – allerdings übertrug sich das auch aufs Basketballfeld. „Wenn du im Sport entspannt bist, wirst du niemals der Beste sein. Die Medizin ließ mich auf der Stelle treten.“
Irgendwann setzte er die Arzneimittel ab und über Entspannungsübungen fand er Wege, mit der Zwangsstörung umzugehen. Zwar berührt er immer noch nicht die Schalter in Fahrstühlen, aber ansonsten schränkt die Zwangsstörung ihn nicht mehr ein.
NBA und EuroLeague
2013 wurde Larkin an 18. Stelle im NBA Draft von den Atlanta Hawks gezogen, aber umgehend zu den Dallas Mavericks transferiert. Noch vor dem Start der heißen Phase der Saisonverbereitung brach er sich im Training den Knöchel. Durchsetzen konnte er sich bei den Mavericks nicht. Er wurde herumgereicht in der besten Liga der Welt, spielte für die New York Knicks und die Brooklyn Nets.
In der NBA, in der es vor Überathleten nur so strotzt, war seine Rolle die des Ersatzmanns auf der Point-Guard-Position. Mit seiner Körpergröße von 1,82 Metern war er einer der kleinsten Spieler der Liga. Freilich hatte er Probleme gegen die langen Arme großer Ringbeschützer abzuschließen. Am anderen Ende des Feldes konnten seine Gegenspieler in der Regel über ihn drüberwerfen, weil sie schlicht größer waren als Larkin.
In der NBA konnte er zwar stellenweise auf sich aufmerksam machen, doch als er nach Europa kam, wuchs seine Rolle. Zunächst spielte er in der Saison 2016/2017 für Baskonia Vitoria in Spanien, seit 2018 ist er für Anadolu Efes Istanbul aktiv. Zwischendurch spielte er noch eine Saison für die Boston Celtics in der NBA. Die beste Basketball-Liga der Welt in den USA ist nach wie vor sein Ziel, aber mittlerweile ist er zögerlicher geworden, wenn Angebote aus Übersee eintreffen. In sieben Jahren als Profi hat der Athlet mit den schwarzen Locken bereits für sechs verschiedene Teams gespielt. Aber der Profisport ist eben ein Business, in dem man es sich nicht immer aussuchen kann, wo man spielen möchte.
Im Interview mit Eurohoops im November erklärte Larkin, dass er die Möglichkeit hatte, im Sommer 2019 wieder in die NBA zu gehen. Aber er entschied sich für einen Verbleib in Istanbul. „Eine vielleicht kleinere Rolle zu übernehmen, war keine Option für mich. Ich blieb bei Efes, um einer der Spieler zu sein, der den Ball hat und die Verantwortung trägt, um der Mannschaft beim Gewinnen zu helfen.“
Larkin jedenfalls hat es geschafft, in der größeren Rolle aufzublühen. Das ist wahrlich nicht immer der Fall, wenn ein NBA-Spieler nach Europa wechselt. Larkin braucht die Freiheit, er selbst zu sein. Wann immer er derzeit das Feld betritt, spürt man regelrecht seinen Antrieb, seine Furchtlosigkeit. Entschlossen und ohne zu zögern nimmt er Dreipunktewürfe, absinkende Gegenspieler bestraft er sofort. Er hat einen fulminanten Antritt, ist aber genauso in der Lage, das Tempo rauszunehmen, wenn es erforderlich ist. Trotz seiner Größe besitzt er die Athletik, Dunkings zu vollenden. Außerdem kann er mit einem Handwechsel, den Gegenspieler bekannt machen mit dem harten Hallenboden.
Erdogan schaltet sich ein
Es ist nicht belegt, ob der türkische Präsident Recep Tayip Erdogan Larkins Spiele vor dem Fernseher verfolgt. Im Dezember machte er Larkin dennoch zur Staatsangelegenheit. In einem TV-Interview erwähnte er, dass er bereit wäre, ihm den türkischen Pass zu geben. „Wir werden tun, was wir in dieser Angelenheit machen müssen. Wir würden es begrüßen, so einen erfolgreichen Basketballspieler in unserem Nationalteam zu sehen. Larkin kann unser Nationalteam zu sehr guten Resultaten führen“, sagte Erdogan.
Keine zwei Monate später hatte der türkische Verband Gewissheit. Am 1. Februar verkündete Larkin, dass er die türkische Staatsbürgerschaft erhalten hat. Über die sozialen Medien ließ Larkin verlauten, dass er keinen Erfolg oder Siege garantieren könne. „Aber ich kann versprechen, jeden einzelnen Funken an Schweiß, Energie und Arbeit für dieses Land zu investieren.“ Bei den Fans von Anadolu Efes genießt Larkin bereits Heldenstatus, zukünftig werden ihn auch alle anderen türkischen Basketballfans anfeuern.
Dass Larkin nach eineinhalb Jahren im Land die türkische Staatsbürgerschaft erhält, kann man kritisch sehen. Zumindest aber hat der Basketball-Weltverband FIBA munterer Einbürgerung Grenzen gesetzt, denn pro Land darf nur ein eingebürgerter Spieler im Kader stehen. Bereits in der Vergangenheit hat die Türkei gebürtige US-Amerikaner „integriert“. Aktuelle Beispiele sind Scottie Wilbekin und Bobby Dixon, der seit seiner Einbürgerung unter dem Namen Ali Muhammad spielt.
Aller Wahrscheinlichkeit nach wird aber nicht Dixon oder Wilbekin, sondern Larkin vom 23.-28. Juni 2020 für die Türkei um die Qualifikation für Olympia kämpfen. So wird er erstmals in den Genuss kommen, ein Nationaltrikot überzustreifen. Wenn er sich für die USA entschieden hätte, hätte er angesichts der immensen Auswahl an Kandidaten wohl nie die Möglichkeit erhalten.

Nächstes Ziel: Köln
Zunächst einmal möchte Larkin jedoch mit Anadolu Efes den EuroLeague-Titel erringen. In der vergangenen Saison scheiterte seine Mannschaft erst im Finale an ZSKA Moskau (83:91), selbst 30 Zähler von Larkin reichten bei der ziemlich knappen Niederlage nicht aus. „Ich will den Titel gewinnen. Ob ich wertvollster Spieler bin oder nicht, es kommt auf den Titel an“, verriet er. Das EuroLeague Final-Four, bei dem die Halbfinals und das Finale an einem Wochenende stattfinden, wird vom 22.-24. Mai in der Kölner Lanxess Arena ausgetragen.
Laut der französischen Zeitung L’Equipe haben sieben Teams in der EuroLeague ein höheres Budget als Anadolu Efes, doch Trainer Ergin Ataman hat die Mannschaft seit seiner Amtsübernahme 2017 stetig weiterentwickelt. Center Bryant Dunston weiß mit seinen 33 Jahren, wo der Korb hängt. Larkins Guard-Kollege Vasilije Micic ist perfekt als zweite Option im Angriff. Auch der deutsche 2,18 Meter-Hüne Tibor Pleiß hat sich in seiner zweiten Saison in Istanbul akklimatisiert und mehr Zeit auf dem Feld erarbeitet. Selbst als Micic wegen einer Verletzung in etwa den gesamten Januar ausfiel, blieb Anadolu Efes ungeschlagen, da Larkin aufdrehte und seine Teamkollegen mitriss.