Die deutsche U21-Nationalmannschaft ist nach 2009 und 2017 zum dritten Mal Europameister geworden. Im Finale in Ljubljana bezwang die Mannschaft von Trainer Stefan Kuntz Portugal mit 1:0. Wieder einmal hat Kuntz das Optimum aus einem unterschätzten Jahrgang herausgeholt.
Es nicht lange her, als Stefan Kuntz ein verheerendes Urteil über den deutschen Nachwuchsfußball fällte. Im November 2020 war der wichtigste Nachwuchstrainer des Deutschen Fußballbunds (DFB) im Podcast kicker meets DAZN zu Gast. Der 58-Jährige sagte, „Deutschland ist komplett im Hintertreffen“, wenn man in Europas Topligen vergleiche, wie viele für die U21 spielberechtigten Profis zum Einsatz kommen.
„Wir sind sowas von abgeschlagen“, monierte der 58-Jährige. Mit seiner Einschätzung hat er nicht Unrecht und doch ist es insbesondere seiner Arbeit zu verdanken, dass die deutsche U21 in den vergangenen Jahren extrem erfolgreich war.
Keine Ansammlung von jungen Stars
Bei der diesjährigen EM hat Kuntz schließlich doch eine wettbewerbsfähige Mannschaft zur Verfügung gehabt, auch wenn die Vorzeichen nicht berauschend waren. Abgestellt wurden Akteure von weniger namhaften Klubs wie Greuther Fürth (David Raum, Anton Stach, Paul Jaeckel) oder Arminia Bielefeldt (Amos Pieper, Arne Maier).
Der U21-Stammtorhüter Finn Dahmen hat in seiner Profikarriere beim 1. FSV Mainz 05 erst drei Bundesligaspiele bestritten. Die technisch stärkeren oder athletisch beeindruckenderen Stars spielten bei Frankreich, Spanien oder den Niederlanden. Als Favorit galt Deutschland lange nicht.
Doch die deutsche U21 fühlte sich in ihrer Underdog-Rolle wohl und mit jedem Erfolgserlebnis nahm sie mehr Schwung auf. Im Viertelfinale gewann Deutschland im Elfmeterschießen gegen Dänemark (8:7), im Halbfinale schaltete man mit 2:1 die Niederlande aus.
Im Finale ließ man die wuseligen und bislang torgefährlichen Portugiesen kaum zur Entfaltung kommen. Weil Deutschland dank disziplinierter Verteidigung kein Gegentor zuließ, genügte für den EM-Titel das Tor von Lukas Nmecha in der 49. Minute nach schöner Vorarbeit von Ridle Baku.
Es ist nicht selbstverständlich, dass Deutschland U21-Europameisterschaften erfolgreich abschließt. Im EM-Halbfinale 2015 musste der damals noch von Horst Hrubesch trainierte Jahrgang eine 0:5-Pleite gegen Portugal hinnehmen, obwohl Deutschland von heutigen Spitzenspielern wie Joshua Kimmich, Emre Can, Matthias Ginter, Kevin Volland und Marc-André ter Stegen vertreten wurde.
Vor dem Turnier hätte man den Einzug ins Viertelfinale als Erfolg verbucht, mit einem derart erfolgreichen Abschneiden hatten die wenigsten gerechnet. Vermeintliche Nachteile gegenüber anderen Nationen in Kategorien wie Sprint- oder Dribbelstärke wurden ausgeglichen durch hervorragenden Teamspirit, Erfolgshunger, Leidenschaft, Widerstandsfähigkeit und das konsequente Umsetzen eines Matchplans.
Es wäre allerdings auch zu simpel, die deutsche U21 allein auf den glänzenden Kampf- und Teamgeist zu reduzieren. Spieler wie Florian Wirtz (Bayer Leverkusen), Nmecha (RSC Anderlecht) oder Baku (VfL Wolfsburg) verfügen über die individuelle Klasse, um einem Spiel die entscheidende Wendung zu geben. Im Finale glänzte zudem der defensive Mittelfeldspieler Niklas Dorsch (KAA Gent) mit acht Balleroberungen und einer Zweikampfquote von 67 Prozent.
Sympathieträger Kuntz
Stefan Kuntz ist nicht um harte, kritische Worte verlegen – und dennoch ist er die meiste Zeit über gut gelaunt, zugänglich und unaufgeregt. Wann immer Kuntz im Fernsehen, am Trainingsplatz oder im Stadion zu sehen ist, hat er stets ein Lächeln auf dem Gesicht. Der gebürtige Neunkirchener (Kreisstadt im Saarland) wirkt jung geblieben, nimmt sich selbst nicht zu ernst und spricht aufgeschlossen mit den Medien.
Kuntz erreicht seine Spieler mit seiner umgänglichen, fürsorglichen, fast freundschaftlichen Art. Trotzdem muss er wie jeder Trainer schwierige Entscheidungen treffen, muss Spieler auf die Bank setzen und Konzentration einfordern. „Ich sehe zuerst den Menschen und dann den Sportler. Wenn ich jemanden kritisiere, dann kritisiere ich nur den Fußballer und nie den Menschen“, sagte Kuntz kürzlich im Team-Deutschland-Podcast.
Als Profi war Kuntz selbst sehr erfolgreich. In 449 Bundesligaspielen für den VfL Bochum, Bayer 05 Uerdingen, den 1. FC Kaiserslautern und Arminia Bielefeldt schoss er 179 Tore. 1991 wurde er mit dem 1. FC Kaiserslautern deutscher Meister und im gleichen Jahr Fußballer des Jahres. Dennoch absolvierte der Mittelstürmer erst 1993 sein erstes Länderspiel für die A-Mannschaft.
Kuntz kennt sowohl die Perspektive, bei wichtigen Turnieren auf der Bank sitzen zu müssen, als auch die, seine Klasse auf dem Rasen zeigen zu können. Bei der WM 1994 kam er im gesamten Turnier nur zu einem Kurzeinsatz, bei der EM 1996 war Kuntz dagegen einer der Leistungsträger. Im Finale stand er von Spielbeginn bis zum Golden Goal von Oliver Bierhoff auf dem Platz. Als Trainer ist er dazu in der Lage, sich in die Situation seiner Nachwuchskicker hineinzuversetzen und kann über seine Erfahrungen berichten, ohne dabei oberlehrerhaft zu wirken.
Nach seiner Spielerkarriere hatte Kuntz zunächst nicht den größten Erfolg als Vereinstrainer von Klubs wie Waldhof Mannheim, LR Ahlen oder dem Karlsruher SC. Bei Mannheim und Ahlen endete seine Amtszeit jeweils nach weniger als einem halben Jahr.
Im November 2007 räumte Kuntz im 11Freunde-Interview ein: „Ich habe den Trainerjob unterschätzt, weil ich einige Eigenschaften, die man als Trainer braucht, gar nicht ausgebildet habe. Ich habe keine richtige Erfüllung darin gefunden und ich hatte ehrlich gesagt, auch keinen durchschlagenden Erfolg.“
Kuntz orientierte sich beruflich um, blieb jedoch in der Branche. Nach einem abgeschlossenen Sportmanagement-Studium arbeitete er zwischen 2006 und 2008 als Manager des VfL Bochum, zwischen 2008 und 2016 war er Vorstandsvorsitzender beim 1. FC Kaiserslautern. Auch wenn der Abschied von Kuntz weder geräusch- noch kritiklos vonstatten ging, fand er schnell einen neuen Job. Ausgerechnet Hansi Flick, künftiger Bundestrainer und damaliger Sportdirektor des DFB, gab ihm im Spätsommer 2016 einen Vertrag als Trainer der U21-Nationalmannschaft.
Nachdem Joachim Löw im März diesen Jahres seinen Rücktritt als Bundestrainer angekündigt hatte, galten sowohl Flick als auch Kuntz als potentielle Nachfolger. Hätte Flick seinen Vertrag beim FC Bayern München erfüllt, wäre Kuntz womöglich neuer Bundestrainer geworden.
Kuntz ist vertraglich noch bis Juli 2023 in seiner Funktion als U21-Nationaltrainer gebunden. Doch sein Erfolg hat bei Vereinen oder anderen Verbänden sicherlich Begehrlichkeiten geweckt. Für den dauerkriselnden DFB ist der Sympathieträger Kuntz allerdings ein wertvoller Heilsbringer, der von internen Streitereien ablenkt.
Der Bessermacher
Als Nachwuchstrainer hat sich Kuntz als Glücksgriff erwiesen. Nach seinem durchwachsenen Erfolg in der Vergangenheit als Vereinstrainer und Funktionär scheint er in seiner jetzigen Position vollends aufzugehen. Bei der EM 2017 setzte sich seine Mannschaft um Serge Gnabry, Maximilian Arnold und Niklas Stark im Finale gegen Spanien (1:0) durch.
Zwei Jahre später revanchieren sich die Spanier und behielten im Finale gegen Deutschland mit 2:1 die Oberhand. Damals waren Spieler wie Lukas Klostermann, Jonathan Tah, Mahmoud Dahoud, Nadiem Amiri, Luca Waldschmidt oder Marco Richter die tragenden Säulen der deutschen U21, aber wie bereits 2017 übertraf Deutschland die Erwartungen.
Nach dem Finale 2019 beendete Kuntz seine Bankettrede mit den Worten: „Ihr bringt zwar Silber an meinen Hals, aber Gold in mein Herz.“ Am gestrigen Sonntag gegen 23.15 Uhr durfte er dann wieder die Goldmedaille in Empfang nehmen.
Bei der Pokalübergabe stieß der gesamte Betreuerstab bei den Feierlichkeiten auf dem Rasen sofort dazu und fiel den Spielern in die Arme. Das Team hinter dem Team, die Ersatzspieler und die erste Elf – jeder freute sich füreinander. Die EM 2021 war ein weiterer Beleg dafür, dass Kuntz seine Schützlinge dazu bringt, über sich hinauszuwachsen.
Ex-Nationalspieler Rene Adler sagte nach dem 2:1-Sieg gegen die Niederlande bei Pro7: „Wenn mir spontan ein Trainer einfallen müsste, der seine Jungs so erreicht, dann vielleicht Jupp Heynckes.“ Kuntz steht vom Charakter her in einer Reihe mit Trainern wie Jupp Heynckes, Ottmar Hitzfeld, Jürgen Klopp oder Hansi Flick – Trainer, die ihren Spielern uneingeschränktes Vertrauen schenken und durch aufrichtige, einleuchtende Kommunikation aufkeimende Konflikte aus dem Weg räumen.
Kuntz ist kein Exzentriker, aber authentisch, unverstellt und daher extrem beliebt bei seinen Spielern. „Er schafft es super, die Jungs zu motivieren. Wir haben einfach Bock, für ihn zu spielen“, sagte Lukas Nmecha, Schütze des entscheidenden Tores gegen Portugal.
„Das war der Jahrgang, dem man von Anfang an am wenigsten zugetraut hat.“, sagte Kuntz nach dem Spiel. „Aber was ist Talent? Hier im Endspiel zu gewinnen oder die beste 100-Meter-Zeit zu laufen?“ Wie Kuntz nach dem Turnier verriet, habe er vor dem Halbfinale von seinem Team „Löwenherz und Adleraugen“ gefordert. Und er fügte hinzu: „Ich habe ihnen gesagt, Ihr müsst wie eine Hyänenbande sein: Keiner kann sie leiden, aber sie bekommen, was sie wollen. Und das heute Abend hat mich daran erinnert.“