Italienische Erstklässler kennen keinen anderen italienischen Meister als Juventus Turin – höchstens aus Erzählungen ihrer Eltern. Vor jeder Saison hoffen Fans von Inter Mailand, AS Rom oder dem SSC Neapel darauf, dass der Platzhirsch aus Piemont von ihrem Lieblingsklub abgelöst wird, nur um ein paar Monate später festzustellen, dass Juventus doch in einer anderen Liga spielt – international derzeit allerdings nicht.
Der AC Mailand war 2011 zuletzt italienischer Meister. Der letzte große Titel der „Rossonieri“ läutete zugleich eine Phase totaler Eintönigkeit ein. Seit 2012 recken Spieler von Juventus Turin am Saisonende die Trophäe in die Luft. Oft war es nicht einmal knapp: 2014 und 2015 hatte Juventus jeweils 17 Punkte Vorsprung vor dem Zweiten, und auch in dieser Saison ist der Meisterschaftskampf so gut wie entschieden: 16 Punkte Vorsprung bei noch 12 ausstehenden Spielen versprechen alles andere als Spannung an der Spitze.
Am Sonntagabend trat Juventus beim Zweiten SSC Neapel an, dem Verein, der noch am ehesten die Bezeichnung Verfolger verdient hat. Wie so häufig beim Duell zwischen beiden Mannschaften in den letzten Jahren, zeigte der Herausforderer Neapel überzeugende Ansätze. Trotzdem musste sich Neapel am Ende mit einer 1:2-Niederlage anfreunden. Juventus spielte im Stile einer Spitzenmannschaft seine Cleverness aus, hatte aber auch Glück und müsste eigentlich ein Stoßgebet an den verstorbenen Padre Pio gen Himmel schicken, der in Italien verehrt wird wie kein zweiter Heiliger.
Zwei Platzverweise, ein Elfmeter
Bereits ab der 25. Minute mussten tapfer kämpfende Neapolitaner in Unterzahl spielen. Nach einem völlig missglückten Rückpass von Kevin Malcuit fing Juventus-Star Cristiano Ronaldo den Ball ab. Neapels Torwart Alex Meret spritzte aus seinem Tor und holte Ronaldo kurz vor dem Strafraum von den Beinen. Ein minimaler, aber strafbarer Kontakt. Meret sah die Rote Karte, für Feldspieler Arkadiusz Milik wurde Neapels Ersatztorhüter David Ospina eingewechselt. Dieser wurde prompt kalt erwischt: Miralem Pjanic, der in der 47. Minute selbst noch die Gelb-Rote Karte sehen sollte, zirkelte den anschließenden Freistoß ins Toreck. Zehn Minuten später legte der deutsche Nationalspieler Emre Can das 2:0 nach.
In der zweiten Halbzeit spielte nur noch Neapel. Die Mannschaft von Trainer Carlo Ancelotti hatte nach der Pause 75 Prozent Ballbesitz und kam nach einer guten Stunde durch Jose Callejon zum Anschlusstreffer. In der Schlussphase bekamen die Süditaliener sogar einen Elfmeter zugesprochen, den Lorenzo Insigne an den Pfosten setzte. Neapel belohnte sich nicht für sein Engagement. Juventus brillierte keineswegs, aber durfte die Heimreise in den Norden letzten Endes mit den nächsten drei Punkten antreten.
Neuer Ligarekord
Ballbesitz, Passquote, Zweikämpfe, Torschüsse, Ecken. In etlichen Statistiken behielt Neapel die Oberhand, nur bei der wichtigsten – den erzielten Toren -, lag Juventus mit 2:1 in Front. Somit blieb Turin im 26. Ligaspiel ungeschlagen und hat bereits 72 Punkte auf dem Konto – ein neuer Serie A-Rekord. Trainer Massimiliano Allegri will von einer Vorentscheidung noch nicht sprechen: „Natürlich sind 16 Punkte ein bedeutender Vorsprung, aber die Mathematik sagt, dass wir die Meisterschaft noch nicht gewonnen haben.“
Wie am Sonntag deutlich wurde, ist es möglich, Juventus in einer Partie Paroli zu bieten; bloß über das komplette Jahr ist das kaum denkbar. Die Mannschaft ist eingespielt, über Jahre organisch zusammengewachsen und musste seit dem Wechsel von Paul Pogba 2016 zu Manchester United, keine hochkarätigen Abgänge verkraften. Mittlerweile sind die Turiner sogar in der Lage, Ausnahme-Athleten zu verpflichten. Der 34-jährige Cristiano Ronaldo, der im vergangenen Sommer von Real Madrid kam, ist das prominenteste Beispiel.
Während es in Italien derzeit blendend läuft, sieht es in der Champions League hingegen anders aus. 2015 sowie 2017 scheiterte Juventus jeweils erst im Champions-League-Finale, das erste Mal gegen Barcelona (1:3), vor zwei Jahren an Real Madrid (1:4), für die damals noch Cristiano Ronaldo spielte. Im Sommer wurde der Ronaldo-Transfer als unmissverständlicher Vorstoß verstanden, Juventus wolle endlich die Königsklasse gewinnen. Der Klub wähnte sich auf einem guten Pfad, den Ronaldo noch besser austreten sollte.
Gegen Atletico unter Druck
Juventus verpflichtete mit Ronaldo einen der besten Spieler aller Zeiten, auch weil die Bosse der „Alten Dame“ wissen, dass viele Leistungsträger wie Giorgio Chiellini (34), Leonardo Bonucci (31), Blaise Matuidi (31) und Mario Mandzukic (32) ihrem Karriereende näher rücken. Jetzt vor dem Rückspiel gegen Atletico Madrid am 12. März stehen die „Bianconeri“ unter Zugzwang, nachdem das Hinspiel in Spanien mit 0:2 verloren ging.
Vor allem Ronaldo wurde in letzter Zeit harsch kritisiert. So titelte die Gazzetta dello Sport nach dem hart erkämpften 1:0-Sieg beim FC Bologna vor einer Woche: „Juve mit dem schlechtesten CR7 der Saison leidet noch unter den Auswirkungen der Niederlage bei Atletico Madrid. Die Mannschaft hat den Zusammenbruch in Madrid noch nicht verarbeitet. Ronaldo zieht ziellos seine Kreise. Ist er müde oder uninteressiert? Es ist als wäre nicht Ronaldo, sondern sein Bruder im Einsatz. Ronaldo ist fahl sowohl im Körper, als auch im Kopf. Noch nie hatten wir ihn in dieser Saison so erlebt.“
Die Presse in Italien reagiert häufig streng, im Zweifel sind Schlagzeilen wichtiger als die Darstellung der Realität. Daher sollte man Kritik nicht immer für voll nehmen und möglichst das Gesamtbild sehen. Vor allem für Ronaldo fällt das Zwischenzeugnis bislang positiv aus: Als einer der ältesten Spieler seines Teams führt der Portugiese sein Team in Toren (19) sowie Vorlagen (10) an. Allerdings muss Ronaldo gemeinsam mit seinem Sturmpartner Paolo Dybala mehr für die Defensive tun, im Hinspiel gegen Atletico war das nicht durchgehend der Fall.
Für Juventus steht viel auf dem Spiel gegen Atletico. Sollte Juventus den Rückstand doch noch gutmachen, fällt es nicht schwer, sich auszumalen, was dann in den italienischen Medien los ist: der italienische Rekordmeister würde sich vor Lob kaum retten können.