Das 3:0 der DFB-Elf gegen Russland brachte neben neuem Optimismus auf dem Weg des Umbruchs auch Erkenntnisse. Kai Havertz bewarb sich mit einer tollen Leistung um die Nachfolge von Mesut Özil, für die Joachim Löw jüngst Marco Reus ins Gespräch gebracht hatte. Umso spannender wird die Frage, wer am kommenden Montag gegen die Niederlande im zentralen offensiven Mittelfeld spielen darf.
Kai Havertz machte gegen Russland sein erstes Länderspiel von Beginn an und überzeugte mit einer Abgeklärtheit, die für einen 19-Jährigen erstaunlich ist. Man kann es als Vertrauensbeweis verstehen, dass Bundestrainer Joachim Löw den Teenager als Zehner aufstellte. Neben 50 Ballaktionen hatte Havertz eine Passquote von 84 Prozent in der gegnerischen Hälfte, darunter sein präziser Schnittstellenpass auf Serge Gnabry, der zum Tor führte. „Ich mag es, meinen Mitspielern Vorlagen zu geben und sie glänzen zu lassen“, sagte Havertz später der Presse.
Havertz verweigert keineswegs den eigenen Abschluss, für Leverkusen hat er in dieser Saison schon sechs Tore erzielt, insbesondere aber seine Passfähigkeiten stechen heraus. Inzwischen zählt er zu den größten Talenten im Weltfußball. „Für 19 Jahre ist er sehr weit, weil er eine gute Ballbehandlung hat und eine gute Übersicht“, lobte Löw die Spielmacherqualitäten des Leverkuseners. Dank dieser Eigenschaften könnte er als Zehner der Nationalmannschaft eher früher als später eine wichtige Rolle einnehmen.
Vor allem wenn man Havertz passende Spieler an die Seite stellt. Mit den schnellen Leroy Sane, Serge Gnabry und Timo Werner hatte Löw Offensivkräfte aufgeboten, die die Fähigkeiten von Havertz perfekt zur Geltung brachten. Der schlaksige Jungprofi wirkte gegen Russland enorm abgeklärt, reif und besonnen. Bekam Havertz den Ball zugespielt, verfiel er keinesfalls in Panik, sondern suchte nach dem besser postierten Mitspieler – immer den Kopf nach oben gerichtet. Fast zwangsläufig kommen Vergleiche mit Mesut Özil auf, der sich ähnlich ergonomisch wie Havertz übers Feld bewegt und dabei immer das Spiel durchdenkt.
Vorbild Mesut Özil
Der Regisseur des FC Arsenal ist es, an dem sich der gebürtige Aachener orientiert. „Ich mag, wie er spielt. Er war immer ein kleines Vorbild für mich“, sagte er einmal zu Sport1. Geht Havertz‘ Entwicklung so weiter wie bisher, könnte er in der Nationalelf schon bald Mesut Özil beerben. Obwohl man junge Spieler nicht zu früh zum nächsten Superstar auszurufen sollte, kann man in seinem Fall über diesen Grundsatz hinwegsehen. Selbst sein Kollege Julian Brandt prophezeit Havertz eine glorreiche Zukunft: „Was er spielerisch und technisch leistet, ist grandios. Kai hat das Talent und Potenzial, ein Weltstar zu werden.“
Schon vor knapp zwei Jahren debütierte Havertz mit 17 Jahren und 126 Tagen in der Bundesliga. Er ist der jüngste Spieler aller Zeiten mit 50 Bundesligaeinsätzen und auf einem guten Weg beim 100. Einsatz den nächsten Rekord zu brechen. Vielleicht ist der Begriff Talent schon jetzt fehl am Platz. In 79 Pflichtspielen für Leverkusen hat der Offensivspieler bereits 14 Tore geschossen und 20 weitere vorgelegt. Mittlerweile wäre es eine Rarität, wenn Havertz beim Anpfiff auf der Bank sitzt. Er ist bei der Werkself zu einem Führungsspieler gereift, ohne jedoch gleichzeitig den Lautsprecher zu geben. Welcher andere 19-Jährige kann das in der Bundesliga von sich behaupten?
Zudem ist Havertz bodenständig. Im Interview mit Spox.com sagte er vor einigen Monaten, dass es ihm nicht schwerfalle, trotz allem auf dem Boden zu bleiben und nicht durchzudrehen. Auch wenn er im Mai 2017 schon Stammspieler in Leverkusen war, ackerte er auf der Schulbank und schaffte sein Abitur. Im März des gleichen Jahres verpasste er deswegen das bis dato größte Highlight seiner Laufbahn. Wegen einer anstehenden Prüfung musste er das Champions-League-Auswärtsspiel bei Atletico Madrid sausen lassen. Aus der Bahn geworfen, hat ihn das nicht.
Luxusproblem auf der Zehn
Am Montag spielt die Mannschaft von Joachim Löw auf Schalke gegen die Niederlande. Sollte Marco Reus nach seiner Fußprellung wieder einsatzfähig sein, wird Löw eine schwierige Entscheidung fällen müssen. Erst vor wenigen Tagen hatte der 58-Jährige den formstarken Dortmunder in den höchsten Tönen gelobt und ihm die Kreativposition im offensiven Mittelfeld in Aussicht gestellt. „Da hat er nach vorn alle Möglichkeiten und ist in der Defensive nicht so eingebunden wie auf dem Flügel“, meinte Löw.
Andererseits will der Bundestrainer Havertz nach dessen Gala sicherlich nicht den Schwung nehmen und auf die Bank setzen. Erstmals seit einigen turbulenten Monaten muss Löw ein Luxusproblem moderieren. Anders als Reus ist Havertz nach seinem zweiten Länderspiel längst keiner der Etablierten, allerdings macht sein Auftritt im gestrigen Testspiel Lust und Hoffnung auf mehr. Womöglich findet Löw einen Weg beide gemeinsam aufzustellen. Ein offensives 4-1-4-1 wäre eine Möglichkeit, gegen konterstarke Niederländer allerdings auch ein Wagnis.