Lucien Favre ist ein außergewöhnlicher Trainer. Wo er als Trainer hinkam, hatte der 61-Jährige Erfolg. Ob bei Hertha BSC, Borussia Mönchengladbach oder jetzt bei Borussia Dortmund. Sicherlich sind die zwischenmenschlichen Qualitäten des Schweizers von Vorteil, aber auch analytisch ist Favre ein Vorreiter. Dass Dortmund die effizienteste Mannschaft der Bundesliga ist, ist kein Zufall.
Bereits in den neunziger Jahren forderte Freiburgs Trainer Volker Finke von seinen Spielern, sie sollten nicht von außerhalb des Strafraums schießen, weil die Wahrscheinlichkeit für Tore im Sechzehnmeterraum stattdessen deutlich größer ist. Mittlerweile kann man Finke auch auf Grundlage von Statistiken recht geben.
Die Datenerhebung im Fußball macht es möglich, für jeden Torschuss anzugeben, mit welcher Wahrscheinlichkeit er im Tor landet: Ein Schuss von außerhalb des Strafraums, sechs Meter von der Spielfeldmitte versetzt, hat eine fünfprozentige Chance ein Tor zu sein, einer von 20 Schüssen ist also drin. Ein paar Schritte weiter im Strafraum verdoppelt sich dieser Wert schon.
Expected Goals
Im Fachjargon hat sich sich der Begriff Expected Goals (zu erwartende Tore) durchgesetzt, welcher die Qualität der Torschüsse misst. Ein Elfmeter hat dabei den besten Wert, nämlich 0,76. Zu 76 Prozent ist ein Schuss vom Elfmeterpunkt erfolgreich. Weitschüsse dagegen sind nur zu etwa zehn Prozent erfolgreich. Wenn man alle Schüsse nimmt, die eine Mannschaft im Laufe eines Spiels abgibt, erhält man einen Gesamtwert. Die Expected Goals werden xG abgekürzt, der entsprechende Wert für die Gegentore xGA (Expected Goals Against).
Man kann davon ausgehen, dass Lucien Favre die analytische Datenerfassung nicht fremd ist. Schon in der Vergangenheit wurden Statistiker auf Teams von Favre aufmerksam. Besonders auffallend: In der Saison 2016/2017 hätte das von Favre trainierte Nizza dem Modell für Expected Goals zufolge ein Torverhältnis von -10 haben müssen, in der Realität hatte Nizza aber eines von +27, übertraf also die Wahrscheinlichkeit um 37 Treffer. Auch als Trainer von Mönchengladbach übertraf Favre gleich dreimal die Expected Goals. Beim Verhältnis der Expected Goals Against und der wirklich gefallenen Gegentore sah es genauso aus, die besten Werte in den Jahren 2012-2014 gehörten der Borussia.
„Wenn man sich diese Expected Goals anschaut, also die Qualität seiner Torchancen und die Zahl der realen Tore, die seine Mannschaften schießen oder kassieren, müsste man denken, dass Lucien Favre der größte Glücksritter in der Geschichte des Fußballs ist – weil er immer mehr herausbekommt als hineingegeben wird. Das konnte man in Mönchengladbach und in Nizza sehen, und das kann man jetzt auch wieder bei Borussia Dortmund sehen“, sagte der Journalist Christoph Biermann kürzlich im Interview mit der ARD Sportschau.
Deutliche Abweichung bei Alcacer
Von Zufall kann aber keine Rede mehr sein, hinter der Effizienz steckt System: Favre weist seine Spieler an, einen Angriff erst dann abzuschließen, wenn die Aussicht auf ein Tor gut ist, wenn beim Torschuss nur „wenige Gegner dazwischen stehen“, obwohl Dortmund „gar nicht so viele Torchancen herausspielt, viele Schüsse werden auch nicht aus der allerbesten Position abgegeben“, betont Biermann. Als Musterbeispiel kann man Stürmer Paco Alcacer hernehmen, der schon zwölf Bundesligatore geschossen hat. Nach den Expected Goals hätte Alcacer erst fünf Stück haben müssen.
Defensiv steckt eine ähnliche Denke dahinter: Die Gegner dürfen passen und auch schießen, das aber nur unter höchstem Gegnerdruck und mit vielen Spielern vor dem Ball. So helfen den Gegnern die vielen Schüsse aus statistisch guten Positionen nicht. Der 61-Jährige folgt einer einfachen Idee: Er will, dass seine Mannschaft gute Schüsse abgibt und der Gegner schlechte.
Jüngste Zahlen, vom Fußball-Institut CIES in Neuenburg und Instat erhoben, zeigen: Der BVB ist die effizienteste Mannschaft der Bundesliga, benötigt für ein Tor im Durchschnitt 4,80 Schüsse. Mit 50 Toren erzielte die Favre-Truppe mit Abstand die meisten Treffer aller Teams, sieben mehr als Bayern München. Und das bei nur 241 Schüssen, in dieser Statistik lediglich der zehntbeste Wert. Man erkennt Favres Muster: Qualität statt Quantität.