Vasilije Micić fuhr einst steile Abhänge hinunter, mittlerweile wirbelt er durch Basketballhallen. Am Samstagabend gewann er mit Anadolu Efes Istanbul zum zweiten Mal die EuroLeague. Beim Final-Four-Turnier zementierte der 28-jährige Serbe seinen Status als einer der besten Spieler in Europa. Nach seiner ersten Auslandsstation in Deutschland schien eine derartige Karriere in weite Ferne gerückt zu sein.
2014 heuerte Vasilije Micić bei den Basketballern des FC Bayern München an. Mit damals 20 Jahren galt er als eines der größten europäischen Talente.
Ein Jahr zuvor hatte er bei der U19-Weltmeisterschaft mit Serbien die Silbermedaille gewonnen und war gemeinsam mit den späteren NBA-Spielern Dante Exum (Australien), Jahlil Okafor (USA), Aaron Gordon (USA) und seinem Teamkollegen Dario Saric ins Team des Turniers berufen worden.
Serben sollten Micićs Einstieg in München erleichtern
Die Serben-Fraktion bei den Münchnern hatte Micić einen Wechsel in die bayerische Landeshauptstadt schmackhaft gemacht. Zu Trainer Svetislav Pešić und seinem Sohn Marko, der bis heute Geschäfstführer ist, gesellten sich die Spieler Duško Savanović und Vladimir Štimac. Mit Nihad Djedovic und Co-Trainer Emir Mutapčić gab es außerdem zwei Bosnier, mit Anton Gavel einen gebürtigen Slowaken.
Die Voraussetzungen für eine rasche Eingewöhnung für Micic waren auf dem Papier blendend, doch die Herausforderung sollte sich für den jungen Point Guard als noch zu groß herausstellen.
Micić hatte die Aufgabe, Malcolm Delaney auf der Spielermacher-Position zu ersetzen. Der US-Amerikaner war zum wertvollsten Spieler der BBL-Saison 2013/2014 gekürt worden, nach nur einem Jahr in Deutschland allerdings nach Russland abgewandert.
Micić kann Delaney nicht ersetzen
Im Interview mit spox im September 2014 antwortete Micić auf die Frage, ob ihn die Delaney-Nachfolge unter Druck setze: „Delaney ist ein unglaublich guter Scorer, mir geht es dagegen darum, so viele Assists wie möglich zu verteilen. Ich muss keine 20 Punkte machen, um glücklich zu sein. Das ist mir nicht wichtig. Ich habe meinen eigenen Stil und werde mein Bestes tun, um den Verein den größtmöglichen Erfolg zu ermöglichen.“
Letztlich konnte Micić die markanten Fußstapfen Delaneys beim FC Bayern nie ausfüllen. Svestislav Pešić berief seinen Landsmann nur in zehn von 39 Bundesligaspielen in die erste Fünf.
In der Bundesliga strauchelte Micić von der Dreierlinie: Nur 23,8 Prozent seiner Würfe aus der Distanz fanden ihren Weg in den Korb, wenn man die Playoffs miteinbezieht. Bisweilen spielte Micic riskante Pässe, was zu vermeidbaren Ballverlusten führte. Außerdem stand seine Verteidigung im Zentrum der Kritik.
Im angesprochenen Interview ahnte er vielleicht schon, dass es auf seiner ersten Auslandsstation Startschwierigkeiten geben würde: „Du kannst noch so talentiert sein, manchmal bist du für ein gewisses Level aber einfach noch nicht bereit. Point Guards brauchen Zeit.“
Micić hatte bereits mit 16 Jahren sein erstes Profispiel für die weltweit bekannte Talentschmiede KK Mega Vizura bestritten. Doch beim damals amtierenden deutschen Meister waren sowohl die Erwartungen als auch das Niveau höher.
Am Anfang seiner Karriere beeinträchtigten Micić außerdem immer wieder Verletzungen am Knie, Ellbogen oder an der Schulter. In der Pubertät wuchs er in einer Saison um 15 Zentimeter, seine Muskeln und Bänder konnten mit dieser Rasanz kaum Schritt halten.
FC Bayern löst Vertrag mit Micić auf
Der FC Bayern schickte Micić mitten in der Saison 2015/2016 auf Leihbasis zu Roter Stern Belgrad, wo er sich stabiliseren konnte. Trotzdem wurde sein Vertrag in München nach Saisonende aufgelöst. Es folgte ein Aufenthalt bei Tofaş (Türkei) und bei Zalgiris Kaunas (Litauen) für jeweils ein Jahr.
Jahr | Vereine von Vasilije Micić |
2010 – 2014 | KK Mega Vizura |
2014 – 2016 | FC Bayern München |
2015 – 2016 | Roter Stern Belgrad (Leihe) |
2016 – 2017 | Tofaş Spor Kulübü |
2017 – 2018 | Žalgiris Kaunas |
seit 2018 | Anadolu Efes Istanbul |
Bei Kaunas steigerte sich Micić merklich; unter Trainer Šarūnas Jasikevičius, selbst Anfang des Jahrtausends einer der besten Aufbauspieler Europas, verbesserte sich Micic vor allem im Pick-and-Roll und im Treffen von Entscheidungen. In dieser Saison zog Kaunas sogar überraschend ins EuroLeague-Final-Four ein und wurde Dritter.
Micić wechselt zum EuroLeague-Tabellenletzten
Trotz der positiven Entwicklung – individuell wie im Teamverbund – entschied sich Micić zu einer Luftveränderung, die den Anschein eines Rückschritts hatte. Der inzwischen 24-Jährige unterschrieb einen Vertrag bei Anadolu Efes Istanbul – ein Klub, der in der Vorsaison den letzten von 16 Plätzen in der EuroLeague belegt hatte.
Auf den zweiten Blick war der Wechsel nach Istanbul durchdacht. Der Klub erhöhte seine Investitionen in den Kader und zog prominente Spieler wie Shane Larkin, Adrian Moerman, James Anderson, Rodrigue Beaubois oder Tibor Pleiß an Land.

Micić führt Anadolu Efes an die europäische Spitze
Der Sommer 2018 sollte für Anadolu Efes eine Zäsur werden, auch Micićs Entscheidung für den türkischen Haupstadtklub sollte sich auszahlen. Auf die Steigerung in Kaunas folgte die Explosion in Istanbul.
Ein Jahr später musste Anadolu Efes in der EuroLeague nur einer Mannschaft den Vortritt lassen: ZSKA Moskau. Micić hatte einen wesentlichen Anteil am Umschwung und am Finaleinzug.
Der Profi schließt mittlerweile hochprozentig am Ring ab und verfügt über kaum zu verteidigende Handwechsel. Mit 1,96 Metern ist Micić für einen Point Guard überdurchschnittlich groß, seit seiner Zeit beim FC Bayern ist er wesentlich kräftiger und dennoch eher schneller als langsamer geworden.
Seine Intelligenz auf dem Basketballfeld wird von Beobachtern immer wieder lobend hervorgehoben. Er weiß, wie er seinen Verteidiger aus der Balance bringt und sich selbst in vorteilhafte Positionen.
Micić profitiert von seiner Ski-Vergangenheit
Zur Entwicklung seiner koordinativen Fähigkeiten gibt es eine Geschichte: Micić wuchs in den serbischen Bergen auf und war ein leidenschaftlicher Skifahrer. Bis er im Jugendalter mit dem Skisport aufhörte, war er sogar vierfacher serbischer Meister in seiner Altersklasse.
Seine Schwester ist Snowboarderin und nahm als erste Serbin bei Olympischen Spielen teil. Auch Micićs Eltern waren sportlich begabt. Sein Vater war einer der schnellsten Männer Serbiens, seine vor drei Jahren verstorbene Mutter Handballerin.
Im Crossover-Podcast mit Joe Arlauckas im Juni 2021 sagte Micic halb im Scherz, halb im Ernst, dass er und sein Vater immer noch glauben, dass er ein besserer Skifahrer als Basketballer ist.
Wie dem auch sei: Micićs Körperkontrolle und sein Gefühl für Geschwindigkeit, die er beim Skifahren ausbildete, sind auch beim Basketball unübersehbar. Um im Skifahrer-Sprech zu bleiben: Micić weiß, wie er seine Gegenspieler dazu bringt, einzufädeln.
Das Skifahren muss er auf die Zeit nach seiner Karriere verschieben. Da das Verletzungsrisiko auf der Piste zu groß wäre, ist ihm seine Passion vertraglich nicht erlaubt.
Micić und Larkin bilden das beste Spielmacher-Duo in Europa
Doch auch in der Halle macht der 28-Jährige bekanntlich eine gute Figur. Mit seinem kongenialen Partner Shane Larkin bildet Micić das beste Spielmacher-Duo in Europa. Beide sind am besten mit dem Ball in ihren Händen. Der Gegner darf gedanklich nie abschalten und einen der beiden aus den Augen lassen.
In manchen Spielen setzt Micić auch mal jeden seiner sieben Dreipunktewürfe daneben. Das hat allerdings nicht zur Folge, dass er die großen Momente in engen Spielen scheut. Micić liebt die Situationen, wenn ein Treffer oder ein vergebener Wurf über den Ausgang des Spiels entscheiden. Am Donnerstag war es wieder soweit.
Im EuroLeague-Final-Four traf Anadolu Efes im Halbfinale auf Olympiakos Piräus. Beim Stand von 74:74 hatten die Istanbuler die Möglichkeit, mit dem letzten Ballbesitz und auslaufender Spieluhr ins Finale einzuziehen. Eine Sache für Micić. Trotz enger Deckung des zehn Zentimeter größeren Sasha Vezenkov brachte Micić einen Wurf von der Dreierlinie los – und traf zum 77:74!
Micić ist gereift und spielt nun mit einer gehörigen Portion Selbstvertrauen, an der es ihm in seiner Zeit beim FC Bayern noch gefehlt hatte. Selbst wenn seine Kollegen taumeln und er auf sich allein gestellt ist, behält er die Nerven.
Im Finale packt Micić sein Team auf seine Schultern
Das Finale gegen Real Madrid am Samstag bot diesbezüglich bestes Anschauunungsmaterial. Aufgrund starker Verteidigungsreihen und schwacher Dreierquoten auf beiden Seiten bot das Duell kein Spektakel. In einer von Nervosität geprägten Partie setzte Micić dennoch regelmäßig Nadelstiche.
In der ersten Halbzeit erzielten er und Larkin 23 der 29 Punkte ihrer Mannschaft. Da die restlichen Istanbuler Spieler abgemeldet waren, führte Real Madrid nach 20 Minuten mit fünf Punkten, nach 24 mit neun.
Im zweiten Durchgang entdeckte plötzlich Tibor Pleiß sein heißes Händchen, der gebürtige Kölner hatte zum Schluss 19 Punkte zu Buche stehen. Anadolu Efes glänzte nicht, Real aber auch nicht. Als Außenstehender traute man eher den Istanbulern als den Madrilenen eine Leistungssteigerung zu.
Zwar vermisste man auch im Schlussabschnitt spielerische Klasse, doch Micić besorgte seinem Team immer wieder Punkte, wenn es sie benötigte. Neun Minuten vor Ende ging Anadolu Efes erstmals seit der ersten Minute wieder in Führung.
Micić (23 Punkte), Pleiß (19 Punkte) und Walter Tavares (14 Punkte), Madrids 2,21 Meter großer Center von den Kapverdischen Inseln, blieben die einzigen Spieler mit sowohl guten Wurfquoten als auch mindestens zehn Punkten. Alle anderen Akteure hatten ihr Zielwasser im Halbfinale vergessen.
Madrids fragwürdige Taktik
Das Finale wurde bezeichnenderweise nicht durch einen aufsehenerregenden Korbleger, Dunking oder Dreipunktewurf beendet, sondern durch die ausgebliebene Entscheidung der Madrilenen, bei 17 Sekunden Restspielzeit und einem Punkt Rückstand, einen gegnerischen Spieler zu foulen.
Hätte Madrid durch ein Foul die Uhr angehalten, hätten sie noch genügend Zeit gehabt für einen aussichtsreichen Ballbesitz. Selbst wenn der Gefoulte beide Freiwürfe getroffen hätte, wäre die Chance da gewesen, mit einem Dreier die Verlängerung herbeizuführen.
Doch Madrid beschloss seiner Verteidigung zu vertrauen, Anadolu Efes spielte die Uhr runter und das Endspiel endete mit dem Kampf um den Rebound beim Stand von 58:57 für Anadolu Efes.
Obwohl Anadolu Efes in den vergangenen Jahren die EuroLeague dominierte, hatten einige Experten in dieser Saison andere Teams wie den FC Barcelona oder eben Real Madrid höher eingeschätzt. Das lag vielleicht daran, dass das Team von Trainer Ergin Ataman nach 34 Spieltagen der regulären Saison „nur“ auf Platz sechs gestanden hatte.
Micić wird erneut Final-Four-MVP
Im Viertelfinale schaltete Anadolu Efes in der best-of-five-Serie Mailand mit 3:1 aus, ehe die erfahrene Truppe in Belgrad ihren Titel als beste Vereinsmannschaft Europas verteidigte. Eine Saison zuvor hatten die Türken im Endspiel den FC Barcelona mit 86:81 besiegt.
Wie im Vorjahr wurde Vasilije Micić zum wertvollsten Spieler (MVP) des Final-Four-Turniers gewählt. In der Saison 2020/2021 hatte der serbische Nationalspieler zudem die MVP-Auszeichnung der regulären Saison erhalten. Tibor Pleiß ist übrigens der erste Deutsche, der die EuroLeague zweimal gewinnen konnte.
Bei Anadolu Efes läuft Micićs Vertrag noch zwei Jahre. Seit er im NBA-Draft 2014 an 52. Stelle von den Philadelphia 76ers ausgewählt wurde, ist er auf dem Radar der besten Basketballliga der Welt. Auch ein (vorzeitiger) Abschied in die NBA ist denkbar. Doch noch dürfen sich europäische Basketballfans weiter am serbischen Multitalent erfreuen.