Basketball

Basketball-EM: Deutschland, ein Spätsommermärchen – Mit Anführer Dennis Schröder gelingt dem Nationalteam beinahe der ganz große Wurf

Steffen Prößdorf (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:2022-07-03_Basketball,_Männer,_European_Qualifiers,_Deutschland_-_Polen_1DX_1386_by_Stepro.jpg), „2022-07-03 Basketball, Männer, European Qualifiers, Deutschland - Polen 1DX 1386 by Stepro“, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode

Nach einer jahrelangen Durststrecke hat die deutsche Nationalmannschaft bei der Basketball-EM 2022 treue Fans wieder verzaubert und interessierte Neulinge für den Sport begeistern können. Mit dem Gewinn der Bronzemedaille lösten die Basketballer eine kleine nationale Euphorie aus. Derweil wurde beim neuen Mannschaftskapitän Dennis Schröder eine Entwicklung ersichtlich, die ihm Kritiker nicht zugetraut hätten.

Basketball ist taktisch und intuitiv, schnell und kontrolliert, physisch und leichtfüßig. Eine vielseitige Sportart, gespielt von heißblütigen Hünen und flinken Freidenkern. Das hohe Tempo ermöglicht weit mehr als 100 Ballbesitzwechsel pro Spiel: bedeutet viele Gelegenheiten für Heldentaten.

Selbst ein Rückstand von 20 Punkten ist aufzuholen. Ein geglückter Korbleger bleibt nur für wenige Sekunden im Gedächtnis, Zeit zum Jubeln oder Luft holen gibt es nicht; schließlich will der Gegner spätestens ab der Mittellinie verteidigt werden.

Das Spiel auf zwei Körbe ist ein Teamsport, bei dem der Einzelne angesichts von nur fünf Feldspielern enorm viel Verantwortung trägt – mehr als beim Fußball. Um die Erfolgswahrscheinlichkeit zu maximieren, muss sich der Star allerdings bereitwillig in das Team einfügen und über Fehler der Kollegen hinwegsehen.

Wenn auch der Bankspieler den Korberfolg des Starters abfeiert – obwohl dieser ihm die Spielzeit klaut, ist der ganz große Wurf möglich. Wie bei der deutschen Basketballnationalmannschaft im September 2022.

Erst die dritte EM-Medaille überhaupt

Bei der Heim-EM gewann die Auswahl von Bundestrainer Gordon Herbert Bronze – die erst dritte Medaille beim europäischen Großturnier nach dem Titel 1993 und Silber 2005. Mit furiosen Siegen unter anderem gegen Frankreich, Litauen und Griechenland hat sich Deutschland auf der Basketball-Landkarte wieder zurückgemeldet.

Das DBB-Team hat sich in einen Rausch gespielt und anders als bei vorherigen Turnieren ist der Funke aufs Publikum übergesprungen. Der sportliche Erfolg war dafür ausschlaggebend, aber nicht nur. Auch das Zustandekommen der Erfolge, die mannschaftliche Geschlossenheit, die furchtlose Spielweise des erst 21-jährigen Franz Wagner und die Entwicklung von Dennis Schröder zum gereiften Führungsspieler haben die Zuschauer in den Bann gezogen.

Ex-Nationalspieler Radosavljević nicht überrascht von Schröders Entwicklung

Als der heute 29-jährige Schröder 2014 seine ersten Länderspiele bestritt, spielte der gleichaltrige Bogdan Radosavljević mit ihm zusammen. „Er hat sich unglaublich entwickelt und sich alles sehr hart erarbeitet“, erzählt der Center der Crailsheim Merlins. Laut Radosavljević sei Schröder seitdem sogar „schneller und athletischer“ geworden.

Schröders Entwicklung habe ihn allerdings nicht überrascht. „Ich glaube, er wird noch besser in den kommenden Jahren. Er ist ein Leader und wird es bleiben. Er wurde von den Mitspielern im Nationalteam akzeptiert.“

Auch wenn Schröder ab und an manch einen Dreipunktewurf zu viel nahm, hatte man den Eindruck, dass er sich mehr als früher zurücknahm. Wenn andere einen besseren Tag hatten und der Wurf bei ihm nicht fallen wollte, konzentrierte er sich darauf, die Spieler mit dem heißen Händchen in Szene zu setzen.

Stellenweise überdrehte er zwar noch, aber solche Aktionen beschränkten sich auf ein Minimum. Er bewies ein immer besseres Gefühl dafür, in welchen Phasen ein kontrollierter Spielaufbau zielführend war.

Schröder fand als Anführer des Teams die Balance aus Spektakel, Show und Kontrolle. Er agierte cleverer, eine Spur ruhiger und abgezockter als früher, auch wenn sein Spiel davon lebt, dass er sich an eigenen Korberfolgen hochzieht.

Über das Turnier erzielte Schröder 22,1 Punkte pro Spiel und verteilte 7,1 direkte Vorlagen, in der Endrunde konnte er seinen Punkteschnitt verglichen zur Vorrunde sogar steigern. Mit Ausnahme des kleinen Finales gegen Polen hatte er weniger Ballverluste und kam mit seiner großen Verantwortung besser zurecht – vielleicht auch, weil diese nicht mehr allein auf seinen Schultern lastete.

Steffen Prößdorf (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:2022-07-03_Basketball,_Männer,_European_Qualifiers,_Deutschland_-_Polen_1DX_1386_by_Stepro.jpg), „2022-07-03 Basketball, Männer, European Qualifiers, Deutschland - Polen 1DX 1386 by Stepro“, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode
Steffen Prößdorf (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:2022-07-03_Basketball,_Männer,_European_Qualifiers,_Deutschland_-_Polen_1DX_1386_by_Stepro.jpg), „2022-07-03 Basketball, Männer, European Qualifiers, Deutschland – Polen 1DX 1386 by Stepro“, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode

Dennis Schröder hat bessere Mitspieler als früher

Denn die Nationalmannschaft hat viel mehr Offensivoptionen als früher, das Angriffsspiel ist dadurch variabler geworden. Schröder, Wagner und Maodo Lo können auch aus scheinbar aussichtslosen Situationen ihren eigenen Wurf kreieren.

In aller Regel haben vor allem Schröder, aber auch Lo, Schnelligkeitsvorteile gegenüber ihren Verteidigern. Bei der EM hatte Deutschland meistens Erfolg, wenn die beiden den Korb attackierten und die gegnerische Defensive zum Kollabieren brachten.

Wenn die Offensive statischer wurde, Schröder und Lo ihren Trumpf nicht mehr ausspielten, sah sich Herbert meist zu einer Auszeit gezwungen, in der er eine Rückkehr zu schnellerem Spiel forderte. Meistens ging der Plan auf, auch bei dieser EM war Schröder beim Zug zum Korb kaum zu verteidigen.

Die höhere Qualität im Kader ermöglicht einen größeren Spielraum für Fehler als in der Vergangenheit. Deutschland kann inzwischen auch zähe Partien gewinnen (wie gegen Bosnien oder das Spiel um Platz drei gegen Polen), was ihnen vor drei Jahren noch nicht geglückt war, wie die schmerzhafte Niederlage gegen die Dominikanische Republik bei der WM bewies.

Auch der Rest des Kaders unterstützte das Trio bestens. Edelschütze Andreas Obst konnte jederzeit heißlaufen. Dazu glänzten Johannes Thiemann und Johannes Voigtmann dank ihrer vielseitigen Fähigkeiten. Der eingebürgerte Nick Weiler-Babb machte als Defensivanker von sich reden, offensiv trat er weniger in Erscheinung. Bei Daniel Theis wechselte sich Licht und Schatten ab, als Verwerter von hohen Zuspielen Schröders zeigte der NBA-Spieler jedoch seine Klasse.

Der Bundestrainer hat viel Vertrauen in seine Spieler

Ein wichtiger Faktor des Erfolgs: Coach Gordon Herbert. Der frühere deutsche Bundestrainer Dirk Bauermann lobte den Kanadier in seiner kicker-Kolumne: „Er wechselt eigentlich nie nach Fehlern aus. Das tut dem Selbstvertrauen der Spieler gut, weil sie nicht immer über die Schulter schauen müssen in der Angst, nach einem kleinen Fehler sofort auf der Bank zu landen“, so Bauermann.

Vor dem Turnier hatte der 63-jährige Herbert eine Medaille als Ziel ausgegeben und war deswegen von vielen Beobachtern belächelt worden. Erst einmal müsse man die schwere Gruppe überstehen, hatten Skeptiker ihm entgegengehalten. Zudem fehlten mit Maximilian Kleber, Isaiah Hartenstein, Moritz Wagner, Isaac Bonga, Paul Zipser und Tibor Pleiß wichtige NBA- und Euroleague-Spieler aus unterschiedlichen Gründen.

Trotzdem qualifizierte sich Deutschland als Gruppenzweiter für die K.o.-Runde in Berlin und war in jedem Spiel konkurrenzfähig – in der 2. Halbzeit gegen Griechenland sogar tonangebend.

Mit seiner stoischen Besonnenheit stellt Herbert das Gegengewicht zum eher impulsiven Schröder dar. „Die Anweisungen in den Auszeiten sind immer klar und in aller Regel taktischer Natur“, befand Bauermann und ergänzte: „Er verzichtet auf den Versuch, zusätzlich zu motivieren und zu inspirieren, was bei dieser Mannschaft offenbar auch nicht notwendig ist.“

Auf der einen Seite der erfahrene Taktiker, der sich nahezu nie durch fragwürdige Schiedsrichterentscheidungen aus der Ruhe bringen lässt, auf der anderen der laute Leader Schröder, dem Herbert nach der Streichung von Robin Benzing das Kapitänsamt übertragen hat. Die Harmonie zwischen dem Trainer und dem besten Spieler scheint zu stimmen.

Früher Sündenbock, jetzt „MVP“

Als Deutschland bei der letzten Heim-EM 2015 und bei den Weltmeisterschaften 2019 jeweils in der Gruppenphase ausschied, bekam Schröder von allen Spielern am meisten Tadel ab. Vor allem 2015, als Schröder und der alternde Dirk Nowitzki die einzigen deutschen NBA-Spieler im Team waren, wirkte es häufig so, dass Schröder im Zweifel nur sich selbst vertraute und die eigene Heldengeschichte schreiben wollte – mit durchwachsenem Erfolg.

Ihm wurde vorgehalten, zu sehr auf sich selbst konzentriert zu sein. Die Zuneigung der deutschen Fans war auch nach guten Leistungen des Aufbauspielers stets verhalten. Kein Vergleich zu dem uneingeschränkten Wohlwollen, das Nowitzki entgegengebracht wurde.

Als Schröder im September 2022 bei seiner 30-Punkte-Gala gegen Spanien an der Freiwurflinie stand, schallten „MVP-Rufe“ durch die Halle. Vielleicht schließen die Fans Schröder ja mit ein paar Jahren Verspätung in ihr Herz. Als „MVP“ wird übrigens der „most valuable player“, der wertvollste Spieler, bezeichnet.

Auch der Trainer war voll des Lobes, nach dem Halbfinaleinzug sagte Herbert über den 29-Jährigen: „Nicht nur hat er gut gespielt, seine Führungsqualitäten sind hervorragend. Er ist jemand, der als Point Guard das Spiel diktieren kann.“

Schröder kehrt zu den Los Angeles Lakers zurück

Erstaunlich: Bis zum Halbfinale hatte Schröder keinen Arbeitgeber. Nach dem Spiel wurde vermeldet, dass er einen Einjahresvertrag bei den Los Angeles Lakers über 2,6 Millionen Dollar unterschreiben wird.

Zwei Spielzeiten ist es her, als Schröder für die Lakers schon einmal auflief. Im Frühjahr 2021 lehnte er ein Angebot zur Vertragsverlängerung über vier Jahre und 84 Millionen Dollar ab. Nach schwachen Leistungen in den Playoffs wollten ihn die Lakers plötzlich nicht mehr, auch das Interesse anderer NBA-Teams hielt sich in Grenzen. Er hatte sich verpokert.

Schröder verbrachte die vergangene Saison bei den Boston Celtics und Houston Rockets, jetzt wird er erneut an der Seite der Superstars LeBron James und Anthony Davis auf Korbjagd gehen.

Womöglich ist ihm das Geld auch nicht mehr so wichtig wie früher. Immerhin setzte er sich bei der EM dem Risiko aus, sich womöglich zu verletzen und am Ende vertragslos zu bleiben.

Schröder, mittlerweile zweifacher und demnächst dreifacher Vater, ist reifer geworden. Das zeigt sich auf und neben dem Feld. In Auszeiten bestärkt er seine Mitspieler, statt sie zurechtzuweisen. Keine Selbstverständlichkeit, wie die slowenischen NBA-Stars Luka Doncic und Goran Dragic demonstrierten, als sie ihre Teamkollegen anfuhren.

Schröder will eine Medaille für Ex-Kapitän Benzing auftreiben

Außerdem hat Schröder den Blick für das große Ganze. Nach der Medaillenzeremonie am Sonntag dachte er an seinen Vorgänger. „Robin Benzing braucht eine Medaille. Wenn er keine kriegt, dann kriegt er meine, weil er eigentlich der Kapitän dieser Mannschaft ist“, sagte der Nationalspieler, der ins All-Star-Team des Turniers gewählt wurde.

Wenn Deutschland Europameister geworden wäre, wäre Schröder wahrscheinlich Turnier-MVP geworden. In der Schlussphase des umkämpften Halbfinales gegen Spanien, dem späteren Titelgewinner, gingen Deutschland jedoch die Lösungen aus – auch Schröder.

Man konnte eine Parallele zur deutschen Fußballnationalmannschaft ziehen, die bei der Heim-WM 2006 im Halbfinale gegen Italien in den letzten Minuten der Verlängerung den Titeltraum begraben musste. Damals wie heute gewann Deutschland das Spiel um Platz drei. Damals wie heute bleibt die Erkenntnis: Man muss nicht jedes Spiel gewinnen, um ein (Spät-)sommermärchen zu schreiben.

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